Wie das Bundesverfassungsgericht Eltern-Kind-Entfremdung ohne Grundlage (ver)-urteilt

Mit seiner Entscheidung 1 BvR 1076/23 vom 17.11.2023 hat sich das Bundesverfassungsgericht zum Parental Alienation Syndrom geäußert. Dies hat es als nicht tragfähige Grundlage bezeichnet, wenn Gerichte „auf das überkommene und fachwissenschaftlich als widerlegt geltende Konzept des sogenannten Parental Alienation Syndrome (kurz PAS)“ zurückgreifen würden.

In der Ausgangsentscheidung des OLG Köln (25 UF 19/23 vom 08.05.2023) wurde allerdings mit keinem Wort „Parental Alienation Syndrome“ erwähnte. Auch „Eltern-Kind-Entfremdung, welches das OLG angeblich zur Begründung herangezogen hätte, findet sich im OLG-Beschluss nicht.

Es muss daher die Frage gestellt werden, wie die fatale Rn 34 Eingang in den Beschluss des BVerfG gefunden hat. Eines Absatzes, mit dem das BVerfG die nachweisbaren Desinformationsbestrebungen einiger Aktivisten-Gruppen bedient.

Festgehalten werden kann vorweg bereits, dass die Fachgerichte an der Berücksichtigung von Parental Alienation, aufgrund der Entscheidung des BVerfG nicht gehindert sind. Sie sind, im Gegenteil, aufgrund der Rechtsprechung des EGMR dazu gehalten, dies in ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.

  • Der Artikel wird detailliert auf die Entscheidung, die Hintergrunde und handelnden Personen eingehen.
  • Es werden die notwendigen Fragen beantwortet, die sich daraus für Rechtsprechung und Praxis ergeben.
  • Es wird auf die Rechtsprechung des EGMR verwiesen. Dieser hat Parental Alienation (ohne Syndrome) schon lange als Form psychischer Kindeswohlgefährdung anerkannt.
  • Es wird der internationale Forschungsstand, welcher im erheblichen Widerspruch zur auffallend rigiden, und sich nicht an den Inhalten der Ausgangsentscheidung orientierenden Entscheidung des BVerfG steht, aufgezeigt.
Wie das Bundesverfassungsgericht Eltern-Kind-Entfremdung (ver)urteilt


Inhaltsverzeichnis


Entfremdung ist dem Bundesverfassungsgericht nicht fremd

Eine Entfremdung zwischen Kind und Eltern nach einer Trennung ist dem BVerfG nicht fremd. Im Gegenteil, ist es seit Jahrzehnten fester Bestandteil der Rechtsprechung des BVerfG, einer solchen vorzubeugen:

„Das Umgangsrecht ermöglicht dem umgangsberechtigten Elternteil, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung durch Augenschein und gegenseitige Absprache fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten und einer Entfremdung vorzubeugen, sowie dem Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 31, 194 <206>; 64, 180 <187 f.>; stRspr).“

Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Dieser Punkt wird bei der weiteren Betrachtung der Entscheidungen von Bedeutung sein.

I Zur Ausgangsentscheidung des OLG Köln

Liest man die Entscheidung des BVerfG, erhält man den Eindruck, dass das OLG Köln seine Entscheidung ohne die erforderliche Sorgfalt in der Begründung gefasst hätte. Ein bestehendes Gutachten wäre nicht berücksichtigt, die Meinung des Verfahrensbeistands nicht einbezogen worden. Die Entscheidung sei auf völlig veralteten Konzepten begründet, ohne die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. So erscheint es – in Unkenntnis der Ausgangsentscheidung – nachvollziehbar, dass das BVerfG hier intervenierte. Die tatsächlichen Umstände waren jedoch völlig andere, wie nachfolgend aufgezeigt wird.

Die Eltern

Zugrunde lag ein getrenntes Elternpaar von zwei Kindern. Die Eltern wurden als „hochstrittig“ bezeichnet. Dokumentiert ist allerdings einzig, dass die Mutter wiederholt gerichtliche Entscheidungen missachtete. Es gab aufgrund ihrer Weigerungen mehrere Polizeieinsätze. Bis zur Einleitung des hier diskutierten einstweiligen Anordnungverfahrens (eA) zum Sorgerecht gab es bereits 6 Ordnungsmittelverfahren, in denen sie verurteilt wurde. In einer ersten Entscheidung wurde 2020 das Aufenthaltsbestimmungsrecht (ABR) noch der Mutter übertragen. Diese verweigerte ab September 2022 den Umgang zwischen Vater und Kindern.

Das Amtsgericht

Das Amtsgericht änderte die Ausgangsentscheidung dann im November 2022 aufgrund der sich mittlerweile geänderten Umstände ab. Es übertrug das ABR einstweilig auf den Vater. Nach mündlicher Anhörung und auf Empfehlung des Verfahrensbeistandes wurde das ABR im Januar 2023 vom Amtsgericht wieder auf die Mutter übertragen. Anschließend verweigerte die Mutter dem Vater erneut den Umgang mit den Kindern.

Das Oberlandesgericht

Gegen die Entscheidung des Amtsgerichts ging der Vater in Beschwerde beim OLG Köln. Dies übertrug das ABR per eA auf den Vater. Das OLG führte zur Begründung eine Vielzahl von einzelnen Verstößen der Mutter gegen die gerichtlichen Beschlüsse auf. Unter anderem führte es aus:

„Die Kindesmutter sieht sich offensichtlich nicht dazu veranlasst, sich an gerichtliche Beschlüsse und Regelungen zu halten, sondern meint, sie könne sich ohne weiteres einseitig hierüber hinwegsetzen.“

Rn 7 des Beschlusses des OLG Köln vom 08.05.2023, 25 UF 19/23

Es war auch nicht erkennbar, dass die Mutter ihr Verhalten ändern würde. Sie gab noch im Verfahren an, dem Vater auch zukünftig keinen Umgang ermöglichen zu wollen. An einem vom AG in Auftrag gegebenen Gutachten werde sie nicht mitwirken. Eine Mitwirkung der Kinder lehne sie ab und verweigere auch Schweigepflichtentbindungen.

Das OLG Köln wertete die Verweigerung des auf Basis eines früheren Gutachtens festgestellten und durch einen gerichtlichen Beschluss als kindeswohldienlich angesehenen Kontaktes der Kinder zu ihrem Vater als kindeswohlschädlich.

Aufgrund des fortgesetzten Verhaltens der Mutter zu Lasten beider Kinder habe der Senat mittlerweile erhebliche Zweifel an der Erziehungsfähigkeit der Mutter. Diese Zweifel auszuräumen, wäre der Mutter möglich, wie der Senat in einem Hinweis anmerkte:

„Nach Auffassung des Senats täte die Kindesmutter indes gut daran, selbst an der Begutachtung mitzuwirken und dies auch den Kindern ohne Schwierigkeiten zu ermöglichen, um ihre Erziehungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.“

Rn 17 des Beschlusses des OLG Köln vom 08.05.2025, 25 UF 19/23

Die Entfremdungs-Thematik

In der Konsequenz der einzelnen, detailliert dargelegten Handlungen der Mutter entschied das OLG wie folgt:

„Um einer weiteren bzw. vollständigen Entfremdung der Kinder von dem Kindesvater entgegenzuwirken, ist das Aufenthaltsbestimmungsrecht vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen jedenfalls vorläufig auf den Kindesvater zu übertragen, bis in der Hauptsache die endgültige Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts geklärt ist. Der Senat geht dabei aus, dass der Kindesvater der Kindesmutter dabei grundsätzlich Umgangskontakte- ggf. in begleiteter Form – ermöglichen wird.“

Rn 18 des Beschlusses des OLG Köln vom 08.05.2025, 25 UF 19/23

Da das Umgangsrecht auch nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG (siehe oben) auch dem Zweck dient, einer Entfremdung vorzubeugen, ist es selbst für den juristischen Laien ohne weiteres nachvollziehbar, dass ein Gericht bei einer Verweigerung des Umganges durch einen Elternteil von der Gefahr der Entfremdung der Kinder vom anderen Elternteil ausgeht.

Dies umso mehr, als sich die Kinder in diesem Fall seit dem von der Mutter erzwungenen Kontaktabbruch zum Vater und abweichend von vorherigen Befragungen plötzlich ablehnend gegenüber dem Vater äußerten. Hierfür konnte das Gericht keine objektiven, im Verhalten des Vaters liegende Gründe feststellen.

II Die Entscheidung des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht hatte am 15.06.2023 eine einstweilige Anordnung erlassen. Es setzte die Wirksamkeit des OLG-Beschlusses für längstens sechs Monate aus.

Im Gegensatz zu sonstigen Entscheidungen des BVerfG hatten wir hier allerdings die Situation, dass bereits ein Kontaktabbruch vorlag. Die Gefahr einer Entfremdung durch Zeitablauf war somit nicht nur abstrakt, sondern konkret.

In einem anderen Fall, 1 BvR 2100/22 vom 27.12.2022, wies das BVerfG die Verfassungsbeschwerde zur Beschleunigung des Verfahrens zurück. Dies begründete es damit, dass angesichts regelmäßig stattfindender Umgangskontakte die konkrete Gefahr einer Entfremdung nicht ersichtlich sei.

Im Gegensatz dazu gab das BVerfG einer Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 547/06 am 24.07.2008 statt. Dort war der Kontakt zwischen Vater und Kind bereits seit zwei Jahren abgebrochen. Die Fachgerichte hatten keine angemessene Beschleunigung angesichts der konkreten Gefahr einer Entfremdung unternommen.

Unter diesem Aspekt ist bereits fragwürdig, ob der Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das BVerfG hier angemessen war.

Die Frage des drei Jahre alten Sachverständigen-Gutachtens

Das BVerfG kritisiert, dass das OLG Köln keinen Bezug auf die Erkenntnisse des drei Jahre alten Sachverständigengutachtens genommen habe. Das OLG hätte darlegen müssen, weshalb es der Einschätzung des Gutachtens nicht folgte. Dieses Gutachten beschäftigte sich allerdings nicht  mit den Fragen, welche aktuell zur Entscheidung anstanden.

Das BVerfG widerspricht an der Stelle seiner eigenen, am selben Tag verkündeten Rechtsprechung zu einer anderen Familie im Verfahren 1 BvR 1037/23 vom 17.11.2023. Das Heranziehen sachverständiger Äußerungen müsse sich auf die konkreten Umstände und Fragestellungen beziehen. Dies ist im hiesigen Verfahren unzweifelhaft nicht der Fall.

Das OLG hat detailliert dargelegt, welche zahlreichen Verhaltensweisen die Mutter seit der letzten Entscheidung, in der auch das Sachverständigengutachten eingeholt wurde, gezeigt hat. Aus diesen Verhaltensweisen leitete es in eigener Wertung seine Zweifel an der Erziehungsfähigkeit der Mutter ab. Diese sollten in einem Hauptsacheverfahren sachverständig abgeklärt werden.

Es wird nur bedingt klar, welche Anforderungen das BVerfG hier an das OLG stellt. Eine deskriptive Darstellung des Ausgangsgutachtens und eine transparent nachvollziehbare Begründung, weshalb das OLG von der dortigen Empfehlung abweicht, sollten diesen Punkt jedoch auch im verfassungsrechtlichen Sinne heilen können. Denn entscheidungsrelevant herangezogen kann das alte Gutachten, wie zuvor dargestellt, wohl kaum. Das OLG würde sonst gegen die Anforderungen des BVerfG aus dessen Entscheidung 1 BvR 1037/23 vom 17.11.2023 verstoßen.

Die falsche Darstellung der Wertung der Meinung des Verfahrensbeistandes

Das BVerfG zieht als Begründung für seine Entscheidung auch die Behauptung heran, dass sich das OLG nicht mit der fachlichen Wertung des Verfahrensbeistandes auseinandergesetzt hätte. Unter Rz 30 führt es aus:

„Auch unter Geltung des zurückgenommenen Prüfungsmaßstabs muss das Fachgericht die fachlichen Stellungnahmen jedenfalls erkennbar in seine Abwägung einbeziehen und bei einer Abweichung davon plausibel machen, warum es abweicht. Hier ist bereits eine erkennbare Einbeziehung der Stellungnahme des Verfahrensbeistands durch das Oberlandesgericht nicht erfolgt. Es stellt nicht einmal dar, was der Verfahrensbeistand berichtet hat und dass diese fachliche Einschätzung von seiner eigenen Beurteilung abweicht.“

Rn 30 der Entscheidung des BVerfG 1 BvR 1076/23 vom 17.11.2023

Diese entscheidungserhebliche Behauptung des BVerfG ist nachweisbar falsch. Das OLG Köln hat in seiner Entscheidung klar und deutlich aufgezeigt, was der Verfahrensbeistand empfohlen hatte und weshalb es von dessen Einschätzung abwich:

„Bei seiner Entscheidung und Bewertung unterstellt der Senat, dass beide Kinder Kontakte zu dem Kindesvater ablehnen, wie dies auch der Verfahrensbeistand in seinem Bericht vom 25.04.2023 (Bl. 512 ff. d. A.) nach seinem Gespräch mit den Kindern dargestellt hat. Der Senat entscheidet aus Kindeswohlgesichtspunkten in Kenntnis dieser ablehnenden Haltung jedoch abweichend.“

Rn 21 des Beschlusses des OLG Köln vom 08.05.2025, 25 UF 19/23

Eine ausführlichere Darlegung des Berichtes des Verfahrensbeistandes wäre hier vielleicht sinnvoll gewesen. Trotzdem ist die angeführte Begründung des BVerfG mit den tatsächlichen Umständen der OLG-Entscheidung nicht in Einklang zu bringen.

Der nicht vorhandene PAS-Bezug

Unter Rz 34 wird dann überraschend die Erklärung geliefert, dass das OLG Köln das Parental Alienation Syndrome (PAS) und Eltern-Kind-Entfremdung als Begründung herangezogen hätte. Es habe damit

„auf das überkommene und fachwissenschaftlich als widerlegt geltende Konzept des sogenannten Parental Alienation Syndrom (kurz PAS) zurückgegriffen. Das genügt als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung nicht.“

Liest man sich die Entscheidung des OLG Köln aufmerksam durch, stellt man überrascht fest, dass das OLG an keiner Stelle etwas von Eltern-Kind-Entfremdung oder Parental Alienation Syndrome geschrieben hat.

Das BVerfG stützt seine Entscheidung damit auf Umstände, die überhaupt nicht existieren. Es hat sich seine Begründung nicht an den Inhalten der Entscheidung des OLG Köln orientiert, sondern völlig fremde Erkläringen herangezogen. Dies ist insoweit unzulässig und nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts.

Die Rn 34 wirkt fast wie „nachträglich hinzugefügt“ und man muss leider den Eindruck gewinnen, dass aus sachfremden Motivationen dieses Verfahren ausgewählt wurde, um eine ideologisch geprägte Entscheidung zu platzieren.

Niemand spricht von PAS

Das BVerfG weist in seiner Entscheidung die Berücksichtigung des Parental Alienation Syndrome (PAS) zurück. Dabei bedient es sich einer unzulässigen Gleichsetzung von PAS mit Eltern-Kind-Entfremdung und deren internationales Äquivalent, Parental Alienation (PA). Auch die Mitautorin des ZKJ-Artikels aus 2023, Prof. Sabine Walper, Direktorin des Deutschen Jugendinstitutes, bezieht sich in einem aktuellen Interview in der Zeitschrift Forum Sozial ausschließlich auf PAS. Dies zeugt entweder von gravierender Unkenntnis der wissenschaftlichen Debatte oder dem vorsätzlichen Versuch einer Täuschung.

Wissenschaft und Forschung haben bereits seit rund drei Jahrzehnten einen internationalen Konsens, dass es sich nicht um ein Syndrom mit Krankheitswert handelt. Daher wird im Fachkontext auch seit Jahrzehnten ausschließlich von Parental Alienation (PA) gesprochen.

Unter der Prämisse könnte man dem BVerfG sogar folgen, dass die Fachgerichte PAS nicht als Begründung heranziehen sollen. Dies ist im Fall des OLG Köln – nachweislich – allerdings auch nie passiert.

Wer ist Iven Köhler?

Iven Köhler ist normalerweise Richter am OLG Frankfurt. Zudem ist er Leiter des zivilrechtlichen Rechtsprechungsteils der Zeitschrift für Kindschaftsrecht- und Jugendhilfe – ZKJ – auf die auch in der Entscheidung des BVerfG Bezug genommen wird.

Zum Zeitpunkt der Entscheidung ist Köhler wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht. In dieser Funktion war er nach vorliegenden Informationen auch in der Bearbeitung der hier diskutierten Entscheidung involviert.

Es drängt sich angesichts dieser Zusammenhänge der Eindruck auf, dass aus der „Frankfurter Rechtsansicht“, welche u.a. von Prof. Salgo geprägt wurde, versucht wird, durch Desinformation aktiv Einfluss auf die Rechtsprechung und öffentliche Wahrnehmung zu nehmen. Prof. Salgo ist einer der engagiertesten Leugner des Konzepts der Eltern-Kind-Entfremdung. Er ist stets bemüht, unter Ausblendung jahrzehntelanger Forschungsergebnisse Eltern-Kind-Entfremdung als unwissenschaftlich darzustellen.

Bezeichnend ist, dass noch 2022 der bis dahin umfangreichste, interdisziplinäre Fachartikel rund um das Thema Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland in der ZKJ erschienen ist. Dies noch zu einer Zeit, in der Mitautor Reinhard Wiesner noch Mitherausgeber der Zeitschrift ZKJ war. Mit seinem Weggang scheint sich bei der ZKJ auch die Orientierung an Forschung und Wissenschaft verabschiedet zu haben.

Statt Fakten und Wissenschaft scheint sich eine interessengeleitete Deutungshoheit durchzusetzen. Richter Iven Köhler hat dazu aufgrund seiner verschiedenen Tätigkeiten die ideale Position inne, diesen Bestrebungen zur Verwirklichung zu verhelfen.

In der ZKJ wurde die Entscheidung des BVerfG in der Ausgabe 2/2024 besprochen und kommentiert – durch Richter Iven Köhler. Lagen hier Manipulation einer Entscheidung und deren Vermarktung in einer Hand?

Wie das BVerfG aufgrund eines einzigen Aufsatzes eine weltweite, wissenschaftliche Debatte für beendet erklärt

Die Einordnung wissenschaftlicher Debatten wird durch das BVerfG normalerweise unter umfangreicher Betrachtung der verschiedenen Standpunkte und in Abwägung der Validität entsprechender Forschung vorgenommen.

Im vorliegenden Fall wählt das BVerfG mit einer beispiellosen Rigidität einen einzigen deutschen Fachartikel, um eine seit Jahrzehnten international geführte, wissenschaftliche Debatte für beendet zu erklären, indem es ausführt:

„Soweit ersichtlich besteht nach derzeitigem Stand der Fachwissenschaft kein empirischer Beleg für eine elterliche Manipulation bei kindlicher Ablehnung des anderen Elternteils … (vgl. umfassend Zimmermann/Fichtner/Walper/Lux/Kindler, in: ZKJ 2023, S. 43 ff., und dies. in: ZKJ 2023, S. 83 ff.)“

Bezeichnend ist, dass, soweit bekannt, keiner der an diesem Aufsatz Mitwirkenden jemals Forschung zum Thema Parental Alienation Syndrome oder Parental Alienation betrieben hat. Die rund 1.200 wissenschaftlichen Studien und Aufsätze zu dem Thema (siehe Auszugsweise) werden ebenso ausgeblendet wie der ein Jahr vorher ebenfalls in der ZKJ erschienene Beitrag „Zur Notwendigkeit professioneller Intervention bei Eltern-Kind-Entfremdung“, Baumann/ Michel-Biegel/ Rücker/ Serafin/ Wiesner, in: ZKJ 2022, S. 244 ff. und ZKJ 2022, S. 292 ff.). Der Beitrag von Zimmermann et al. war sogar ausdrücklich eine fachwissenschaftliche Replik auf den eine gegenteilige Auffassung vertretenden Beitrag von Baumann et al.

In Anwendung des Maßstabes des BVerfG stellt man sich die Frage, über welche eigene fachliche Expertise das BVerfG verfügt, um eine derart radikale Einschätzung einer wissenschaftlichen Debatte als Begründung heranzuziehen.

Empirische Belege braucht selbst das BVerfG für Einzelfallentscheidungen nicht

Hinzu kommt, dass es keinen „empirischen Beleg für elterliche Manipulation“ braucht. Dass eine solche Manipulation möglich ist, gehört zum Grundwissen, füllt in unterschiedlichsten Formen die Fachliteratur und wurde in zahlreichen Fällen bereits nachgewiesen.

Sowohl die Fachgerichte als auch das Bundesverfassungsgericht haben sich regelmäßig mit Einzelfällen auseinandergesetzt, in denen Eltern ihre Kinder gegen den anderen Elternteil beeinflusst haben. Oftmals wurde dies durch entsprechende, fachliche Einschätzung des Einzelfalles durch Sachverständige bestätigt.

Folgende Entscheidungen des BVerfG seien hier beispielhaft genannt:

Auch das Bundesverfassungsgericht benötigt demnach keinen weiteren „empirischen Beleg“, um die Umstände des Einzelfalles seinen Entscheidungen und seiner eigenen Wertung zugrunde zu legen. Und genau dies ist auch die Aufgabe der Instanzengerichte.

Der Forschungsstand zu Parental Alienation/ Eltern-Kind-Entfremdung

Eine ausführliche Darlegung des internationalen, fachwissenschaftlichen Forschungsstandes zu Parental Alienation wurde 2022 veröffentlicht. Dort wird auch dargelegt, welche Artikel und Studien ein qualitatives Peer-Review durchlaufen haben und in welchen Ländern diese Veröffentlichungen entstanden sind (Harman, J. J., Warshak, R. A., Lorandos, D., & Florian, M. J. (2022, June 2). Developmental Psychology and the Scientific Status of Parental Alienation. Developmental Psychology. Advance online publication. http://dx.doi.org/10.1037/dev0001404).

Deutschland ist in der internationalen Forschung nahezu nicht vertreten. Um sich ein Urteil über eine fachwissenschaftliche Debatte zu erlauben, darf es daher eines Blickes außerhalb des „Deutschen Wahrnehmungsfilters“.

Die Evidenz der Wirksamkeit der Herausnahme von Kindern in Fällen der Entfremdung aus dem elterlichen Haushalt

Dass das BVerfG nicht über die notwendige, wissenschaftliche Expertise zur Beurteilung des internationalen Forschungsstandes verfügt, belegt es im zweiten Halbsatz dieses fatalen Absatzes in Rn 34. Denn dort behauptet es, dass

„… für die Wirksamkeit einer Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt des angeblich manipulierenden Elternteils“ … „nach derzeitigem Stand der Fachwissenschaft kein empirischer Beleg“ bestehe.

Diese Aussage ist nachweisbar falsch.


Templer et. al.

fanden in einer australischen Meta-Analyse von 10 Arbeiten aus dem Zeitraum von 1990 bis 2015 heraus, dass eine Änderung des Sorgerechts oder des Wohnortes des Kindes ein effektives Mittel ist (Templer K, Matthewson M, Haines J, Cox G. Recommendations for best practice in response to parental alienation: findings fromasystematicreview. J FamTher. 2016; https://doi.org/10.1111/1467-6427.12137)

Clavar und Rivlin

konnten dies ebenfalls in Studien auch wiederholt über mehrere Jahrzehnte und mit weit über 1.500 Fällen nachweisen (Clawar SS, Rivlin BV. Children held hostage. Dealing with programmed and brainwashed children. Chicago: American Bar Association, Division of Family Law; 1991; Clawar SS, Rivlin BV. Children held hostage, identifying brainwashed children, presenting a case, and crafting solutions. Chicago: American Bar Association, Division of Family Law; 2013 https://psycnet.apa.org/record/1991-98198-000)

Reay

konnte feststellen, dass Family Reflections Reunification Programme (FRRP-Programm) in den untersuchten Fällen eine Erfolgsrate von 95% der Fälle aufwiesen (Reay K. Family reflections: a promising therapeutic program designed to treat severely alienated children and their family system. AmJ FamTher. 2015;43(2):197–207, https://psycnet.apa.org/doi/10.1080/01926187.2015.1007769). Hierbei handelte es sich lediglich um 4-Tages-Workshops mit dem abgelehnten Elternteil und dem Kind, was noch einmal verdeutlicht, wie schnell und effektiv die Wiederherstellung des Kontaktes erfolgen kann.

Warshak

berichtete ähnliche Ergebnisse aus der Evaluation des Programmes „Family Bridges Workshops (Warshak RA. Family bridges: using insights from social science to reconnect parents and alienated children. Fam CourtRev. 2010a;48(1):48–80, https://psycnet.apa.org/doi/10.1111/j.1744-1617.2009.01288.x).

Harman / Saunders / Afifi

evaluierten das viertägige Programm „Turning Points for Families“, welches für die Behandlung schwer entfremdeter Kinder konzipiert wurde. Es wurde festgestellt, dass das Programm für Kinder sicher ist und diese keine Schäden erlitten und die Teilnehmer von einer überdurchschnittlich positiven und auch stabilen Verbesserung der Situation berichteten (Harman, J.; Saunders, L.; Afifi, T.; Evaluation oft he Turning Points for Families (TPFF) programm for severely alienated children, 2021, DOI:10.1111/1467-6427.12366).


Dies ist nur eine kleine Auswahl an Studien, die die nahezu 100%ige Wirksamkeit der Herausnahme von Kindern aus dem entfremdenden Haushalt und die Durchführung therapeutischer Interventionen belegen.

Diese und noch weitere Arbeiten wurden von renommierten Wissenschaftlern durchgeführt. Sie unterlagen meist einem Peer-Review und wurden teils in renommierten, wissenschaftlichen Magazinen veröffentlicht.

Es verwundert, dass die vom BVerfG zitierten ZKJ-Autoren keine einzige dieser Quellen auch nur erwähnt haben. Dies lässt entweder auf mangelnde, fachliche Expertise oder aber eine interessengeleitete Erstellung ihres Aufsatzes zur Rückgewinnung der Deutungshohiet zu dem Thema in Deutschland schließen, welche sie mit dem 2022er-Aufsatz von Baumann / Rücker / Serafin / Michel-Bigel/ Wiesner verloren hatten.

Die Rechtsprechung des EGMR vollständig ignoriert

Erwähnt werden muss auch, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit seiner Entscheidung Pisica ./. Moldawien (23641/17 vom 29.10.2019, deutsche Übersetzung durch hochstrittig.org) Parental Alienation (ohne Syndrome) anerkannt und als Kindesmissbrauch qualifiziert hat (siehe dazu Fachaufsatz von Sünderhauf / Widrig).

In der Folge hat der EGMR mehrere Entscheidungen getroffen und sehr deutlich betont, welche Verpflichtungen staatliche Stellen haben, um einer Entfremdung entgegenzuwirken und auch bereits abgebrochenen Kontakt wiederherzustellen ( Entscheidungen gegen Italien, Ukraine, Bulgarien, Slowakei).

Für Vertragsstaaten des EGMR, zu denen auch Deutschland zählt, sind diese Entscheidungen bindend und haben mit ihren Anforderungen den Rang eines nationalen Gesetzes.

Es ist bezeichnend, dass das BVerfG an keiner Stelle auf die Anforderungen des EGMR eingeht oder diese berücksichtigt.

III Fazit

Die Kontrolle der Rechtsprechung der Fachgerichte durch das Bundesverfassungsgericht soll ein Bollwerk der Grundrechte darstellen. Seine Rechtsprechung gibt gleichzeitig den Fachgerichten eine Orientierung, welche Anforderungen an die Begründung von Entscheidungen zu stellen sind. Insofern liefert das BVerfG normalerweise einen wichtigen Beitrag zur Fortbildung der grundrechtskonformen Rechtsprechung.

Nach AktivistInnen und Medien (siehe u.a. Faktenchecks sowie Ausführungen zur sog. Hammer-Studie) hat sich nun aber scheinbar auch das BVerfG auf den Weg der aktivistischen Desinformation und Lobbyarbeit begeben.

Glaubwürdigkeit und Vertrauen ins BVerfG muss wiederhergestellt werden

Für die Glaubwürdigkeit dieser wichtigen, rechtstaatlichen Institution ist diese Entscheidung ein schwerer Rückschlag. Die Fachgerichte haben durch solche Entscheidungen keine Orientierung mehr, was sie wie entscheiden sollen. Wenn das BVerfG Dinge kritisiert, die von den Fachgerichten überhaupt nicht eingebracht wurden, dann begibt sich das BVerfG in den Bereich der Willkür.

Es bleibt daher zu hoffen, dass die Verantwortlichen innerhalb des BVerfG zeitnah für Aufklärung sorgen, um das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Rechtstreue des BVerfG wiederherzustellen.

Das OLG kann nichts korrigieren, was nicht Grundlage seiner Entscheidung war

Dem OLG Köln kann man nur raten, dass Verfahren zügig und unter Berücksichtigung der auch von ihm bereits angedeuteten, kindeswohlrelevanten Aspekte zum Abschluss zu führen und das Ergebnis dann auch auf der Basis des eingeleiteten Gutachtens zu begründen. Die Notwendigkeit zur professionellen Intervention zum Schutze der beteiligten Kinder hat es aufgrund des völlig uneinsichtigen und die Kinder belastenden Verhaltens der Mutter ja bereits ausführlich belegt. Es sollte sich dabei nicht durch die Entscheidung des BVerfG einschüchtern lassen, da diese sich auf Umstände (PAS) stützt, die nachweislich nicht der OLG-Entscheidung zugrunde lagen.

Fachgerichte können sich weiterhin auf Parental Alienation beziehen

Es liegt weiterhin im Ermessen der Fachgerichte, aus dem Verhalten von Eltern Rückschlüsse auf eine mögliche Entfremdung des Kindes vom anderen Elternteil zu treffen. In einigen Fällen kann sich dies auf Umstände beziehen, die unter dem Fachbegriff „Parental Alienation“ (PA) erfasst sind. Dies gilt insbesondere, wenn Eltern typische, entfremdende Verhaltensweisen zeigen und sich auch die weiteren, von der Wissenschaft seit Jahrzehnten definierten Faktoren zur Feststellung von Parental Alienation feststellen lassen.

Da sich das BVerfG nur zu PAS geäußert hat, sind die Fachgerichte an der Berücksichtigung von Parental Alienation nicht gehindert. Aufgrund der Rechtsprechung des EGMR sind sie sogar verpflichtet, dies zu berücksichtigen und Maßnahmen zu treffen, um einer Entfremdung entgegenzuwirken. So, wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner eingangs zitierten, ständigen Rechtsprechung auch fordert.

Werden der Desinformation Grenzen gesetzt oder wird diese weiter politisch gefördert?

Die Frage aber bleibt, wie weit ideologiegetriebene Desinformation zu Lasten von Kindern in Deutschland noch gehen wird. Das diese politisch, insbesondere durch das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ), gefördert wird, wird mittlerweile in den Medien offen kritisiert (siehe Demokratiefördergesetz oder die Diskussion um „Rituelle sexuelle Gewalt und Mind Control“). Auch die politische Einflussnahme auf die Wissenschaft nimmt immer mehr überhand, wie z.B. die Vorgänge rund um die Studie „Kindeswohl und Umgangsrecht“ gezeigt haben.

Es ist überfällig, dass auch das Familienrecht einer kritischen Überprüfung unterzogen wird. Dies gilt insbesondere für die Frage von Eltern-Kind-Entfremdung sowie Gewaltvorwürfen. Beides sind Themen, bei denen mit Fehlinformationen Druck auf die Politik ausgeübt werden soll (siehe „Wie mit dramatischen Bildern und falschen Informationen Einfluss auf die Gesetzgebung genommen werden soll“, „Der Zusammenhang zwischen Gewaltvorwürfen und Eltern-Kind-Entfremdung“ oder der Buchrezension zur aktivistischen Desinformation „Im Zweifel gegen das Kind“ der Aktivistinnen Sonja Howard und Jessica Reitzig uvm.)

„Hochstrittig“ nicht pauschal und inflationär verwenden, sondern differenzieren

Auch die Verwendung des Begriffs „hochstrittig“ im familienrechtlichen Kontext sollte kritisch hinterfragt werden. Sinnvoller wäre es, hier konkret zu benennen, welcher Elternteil welches Verhalten zeigt. Hier gesamthaft auf „die Eltern“ abzustellen, verschließt den Blick auf die Verantwortlichkeiten an der Konfliktdynamik (siehe Verfehlte Lösungsansätze) und damit, wer zu den Belastungen der involvierten Kinder in welchem Maße beiträgt. Nur so können Entscheidungen getroffen werden, welche die Kinder auch entlasten.

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Ein Kommentar

  1. Gut recherchiert und begründet! Man würde sich wünschen, in den Redaktionen unserer Medien würde ähnlichen Standards gearbeitet.

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