Kindeswille als Entscheidungsgrundlage

Der Kindeswille als Entscheidungsgrundlage?

Der Kindeswille wird immer wieder als Entscheidungsgrundlage, auch in hochstrittigen Verfahren, herangezogen. Grundsätzlich ist dagegen nichts einzuwenden, denn schließlich geht es ja um das Kind und es soll, seinem Alter und seiner Reife entsprechend, auch in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden.

Nur was ist, wenn die Mutter dem Kind kurz vor der Befragung untersagt hat, mit seinen Freunden zu spielen, da die Hausaufgaben vorgehen? Oder Papa am Wochenende einen tollen Ausflug gemacht hat? Mama doof, Papa toll kann da ganz schnell als Aussagen kommen (funktioniert umgekehrt übrigens genauso). In der nächsten Woche ist der „Kindeswille“ schon wieder ganz anders, denn auch dieser ist Veränderungen und Entwicklungsprozessen unterworfen.

Der Kindeswille wird daher zumeist an folgenden Kriterien festgemacht (in Anlehnung an Dettenborn & Walter, Familienrechtspsychologie, 3. Auflage)

  • Zielorientierung
  • Intensität
  • Stabilität
  • Autonomie

Der Kindeswille als Entscheidungsgrundlage stellt insbesondere in hochstrittigen Verfahren ein großes Problem, oftmals sogar eine Gefährdung des Kindes dar.

Taugt der Kindeswille als Entscheidungsgrundlage in hochstrittigen Verfahren?
Ist Kindeswille das, was das Kind sagt oder nicht?

Je strittiger das Verfahren, desto weniger eignet sich der Kindeswille als Entscheidungsgrundlage

Kinder geraten, gefragt danach, welchen Elternteil sie lieber haben oder bei wem sie gerne leben wollen, in einen Loyalitätskonflikt. Sie wollen keinen Elternteil verraten, nicht in den Konflikt hineingezogen werden. Häufig führt dies dazu, dass Kinder bei dem einen Elternteil das eine, und bei dem anderen Elternteil etwas ganz Anderes sagen.

Was also ist in einem solchen Moment der Kindeswille?

„Ich liebe euch doch beide!“

Das Kind möchte nicht in die Rolle des Entscheiders zwischen den Eltern gedrängt werden.

Ist ein beeinflusster Kindeswille immer schädlich?
Nein, denn jeder kindliche Wille wird beeinflusst – dies nennt sich Erziehung. Dass ein Kind Zähne putzt, was es lernt oder auch mit welchen Hobbies es in Kontakt kommt, all dies geschieht durch eine Beeinflussung durch die Eltern und ist auch nicht schlimm. Die Beeinflussung erfolgt zum Wohle des Kindes und das Kind hat auch die Möglichkeit mitzugestalten.

Wenn die Beeinflussung des Kindeswillens aber nur den Interessen des Elternteils und zum Nachteil des Kindes dient, dann bedeutet dies nicht nur den Missbrauch der elterlichen Fürsorgepflicht, sondern auch einen emotionalen Missbrauch am Kind. Das Kind muss seine eigenen Interessen und Bedürfnisse verleugnen, um dem Konflikt mit seinem Elternteil aus dem Weg zu gehen.

Ein derart beeinflusster, induzierter Kindeswille stellt häufig bereits für sich betrachtet eine Kindeswohlgefährdung dar und wird häufig zu Recht als selbstgefährdender Kindeswille und damit nicht entscheidungserheblich erkannt.

Ist Kindesanhörung Kindesmisshandlung?

Kinder werden in hochstrittigen Verfahren oftmals durch Jugendamt, Verfahrensbeistand, Familienrichter, Gutachter und weitere Personen nach ihrer Situation befragt. Häufig führt dies dazu, dass Kinder mit der Zeit überhaupt keine Aussage mehr treffen wollen und schweigen oder aber irgendetwas sagen, nur um nicht mehr in den Konflikt der Eltern hineingezogen zu werden und ihre Ruhe zu bekommen.

Der ehemalige Familienrichter Jürgen Rudolph bezeichnete daher nicht nur einen Loyalitätskonflikt, sondern in diesem Zusammenhang auch die Anhörung von Kindern vor dem Familiengericht als Kindesmisshandlung.

Ab Minute 3:00 Loyalitätskonflikt ist Kindesmisshandlung

Nun mag dies nicht für alle Fälle gelten, für sehr strittige Fälle trifft dies aber zu, da der artikulierte Kindeswille hier meist keine oder eine nur sehr eingeschränkte Aussagekraft hat.

Kindesmund tut Wahrheit kund?

„Aber mein Kind hat mir doch gesagt, dass …“ – so fangen sicher viele Sätze von Eltern an und diese sind von ihren dann folgenden Ausführungen meist auch 100%ig überzeugt. Das Problem ist nur, dass Aussagen unterschiedlich gedeutet werden können.

  • Was das Kind sagt, ist nicht immer, was das Kind meint
  • Was die Eltern hören ist nicht immer das, was die Kinder meinen
  • Was die Eltern hören wollen, ist oftmals noch etwas ganz Anderes
  • Was Eltern tun ist oftmals nicht das, was Kinder brauchen
Kind sagt Kind meint Mutter hört
Ich will nie wieder zu Papa Ich weiß das Du Papa nicht magst und will Dich nicht traurig machen Kind lehnt Vater ab, kein Wunder so wie der ist. Ich kann Kind verstehen, ich mag den Vater ja auch nicht mehr, unterstütze es bei seinem Willen.

Oder umgekehrt beim Vater

Kind sagt Kind meint Vater hört
Ich bin viel lieber bei Dir als bei Mama, ich mag Dich viel lieber Ich will Dich nicht verlieren Sei für mich da Ich vermisse Dich Mein Kind will bei mir leben, bei der Mutter kann er es auch nicht mehr aushalten, genau wie ich.

Diese einfachen Beispiele zeigen wie schwierig es sein kann, den Willen von Kindern zu ermitteln und zu beurteilen. Die Wahrnehmung der Eltern ist von eigenen Emotionen geprägt, welche wiederum die Äußerungen der Kinder beeinflussen.

Kinder vor Beeinflussung schützen

Die Überbetonung des Kindeswillens durch Fachkräfte und Familiengerichte kann dazu führen, dass Elternteile den Willen der Kinder auch bewusst zu ihren Gunsten zu beeinflussen versuchen.

Große Geschenke, mehr oder weniger subtile Beeinflussungen und Versprechungen, negative Aussagen über den anderen Elternteil bis hin zu Drohungen, wenn etwas Positives über den anderen Elternteil gesagt wird.

  • Da wäre ich aber ganz doll traurig, wenn Du dies oder jenes sagst
  • „ich sehe das ja dann im Protokoll, was Du [Kind] gesagt hast
  • Du wirst mich doch nicht verraten, Du liebst mich doch
  • wenn Du nicht sagst, was ich will, dann werde ich Dich für immer verlassen

Dies sind nur einige von leider häufig zu findende Methoden, um den geäußerten Kindeswillen zu beeinflussen.

Hinzu kommen noch weitere Methoden, um dem Kind ein schlechtes Bild vom anderen Elternteil zu vermitteln und so die Willensbildung des Kindes zum eigenen Vorteil zu manipulieren:

  • Umgangstermine werden abgesagt, das Kind darüber aber nicht informiert (ach das ist aber schade, dass der Papa nicht gekommen ist, hat er Dich nicht mehr lieb?)
  • Positive Erlebnisse des Kindes mit dem anderen Elternteil werden negativ dargestellt (mehr bist Du ihm / ihr nicht wert?)
  • Der Kontakt wird unterbrochen, so dass dem Kind die Möglichkeit fehlt, eigene Erfahrungen mit dem anderen Elternteil zu machen (Eltern-Kind-Entfremdung droht)

Ein absolut authentisches Beispiel für eine solche negative Beeinflussung des Kindeswillens ist der ARD-Film „Weil Du mir gehörst“. Hier sind nicht nur die Methoden erkennbar, sondern auch die Machtlosigkeit des Kindes, sich gegen den Missbrauch zur Wehr zu setzen.

Trailer zum Film „Weil Du mir gehörst“

Selbstgefährdender Kindeswille

Für Kinder ist dies oftmals eine kaum noch zu ertragende Situation, aus der sie sich nur befreien können, indem sie entweder gar nichts sagen oder aber sich auf die Seite eines Elternteils schlagen, um zumindest von einer Seite ruhe zu haben. Die Kinder sind letztendlich dazu gezwungen etwas zu sagen, mit dem sie sich selbst Schaden zufügen. In solchen Fällen spricht man von einem selbstgefährdenden Kindeswillen.

Wird dem selbstgefährdenden Kindeswillen gefolgt, führt dies häufig zu einer Eltern-Kind-Entfremdung, psychosomatischen Beschwerden, Selbstverletzungen oder zu lebenslangen psychischen Problemen der Kinder, die in dem Bewusstsein leben müssen, einen eigentlich geliebten Elternteil verraten und vielleicht sogar abgelehnt zu haben.

Rechts-Tipp

„Die Sachverständige hat jedoch herausgearbeitet, dass eine Umsetzung des Kindeswillens unter den gegebenen Umständen dem Kindeswohl schaden würde. Es ist daher vorliegend von einem selbstgefährdenden Kindeswillen auszugehen, dem nicht zu folgen ist.
OLG Brandenburg 10 UF 176/09 vom 16.12.2010

„Der von R… geäußerte Wille, auch künftig bei der Mutter leben zu wollen, steht der Entscheidung nicht entgegen. Ihr Wille ist zwar stabil, jedoch weder autonom noch zielorientiert und nach Einschätzung der Sachverständigen nicht intensiv. Schon aus diesem Grund ist fraglich, ob er beachtlich ist. Jedenfalls aber ist er aus den dargelegten Gründen als selbstgefährdend einzustufen.
OLG Brandenburg 15 UF 71/07 vom 02.10.2007

Eltern dürfen den Willen von Kindern nicht missbrauchen

In hochstrittigen Verfahren sollte der Kindeswille nur mit äußerster Zurückhaltung zur Entscheidungsfindung hinzugezogen werden. Sofern erkennbar ist, dass Kinder zu beiden Elternteilen eine Bindung und Beziehung haben, sollten sie nicht unnötigen Befragungen ausgesetzt werden. Sowohl den Eltern als auch den Kindern sollte deutlich kommuniziert werden, dass die Kinder nicht über den Ausgang des Verfahrens entscheiden werden, sondern das Verhalten der Eltern. Dies bietet die Chance, dass die Kinder nicht übermäßig beeinflusst werden (funktioniert nicht bei pathologischer Hochstrittigkeit).

Zudem sollten die Eltern eindringlich nicht nur an ihre Verpflichtung gegenüber ihrem Kind, sondern auch an ihre Loyalitätspflicht gegenüber dem anderen Elternteil erinnert werden

„Die Eltern haben alle zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert.“

§1684 (2) BGB
Rechts-Tipp

„Ein geäußerter Kinderwille kann außer Acht gelassen werden, wenn er offensichtlich beeinflusst worden ist.“ Dies gilt insbesondere, „wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes die wirklichen Bindungsverhältnisse nicht zutreffend bezeichnen“.
Bundesverfassungsgericht 1 BvR 212/98 vom 2. April 2001

Den Eltern sollte in schwierigen Fällen entsprechende Unterstützung angeboten werden. Kommen Eltern ihrer Sorge- und Loyalitätspflicht nicht nach oder verweigern sie trotz Fehlverhalten angebotene Unterstützung, sollten frühzeitig Maßnahmen zum Schutz des Kindes ergriffen werden. Dies können Obhutswechsel oder auch Einschränkungen der elterlichen Sorge sein. Wichtig ist, dass nicht durch Zeitablauf Fakten zu Lasten der Kinder und damit auch zu Lasten eines Elternteils geschaffen werden.

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