Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Italien verurteilt wegen Kontaktabbruch und unzureichender Maßnahmen
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung vom 24.06.2021 Italien verurteilt wegen Kontaktabbruch und unzureichender Maßnahmen, um den Kontakt zwischen Vater und Sohn aufrecht zu erhalten und wiederherzustellen. Vorausgegangen war ein nicht genehmigter Umzug der Mutter über 600 km und deren fortwährende Weigerung zur Kooperation.
Systematische Mängel in der Umsetzung nationalen Rechts
Alles keine hinreichenden Gründe, wie der EGMR entschied. Dafür kritisierte er systematische Mängel in der Umsetzung nationalen Rechts, worauf er bereits mehrfach hingewiesen hatte. So hieß es:
RZ 80: Das Gericht ist der Auffassung, dass die Behörden im vorliegenden Fall nicht die gebotene Sorgfalt walten ließen und hinter dem zurückblieben, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte. Insbesondere ist es der Ansicht, dass die inländischen Gerichte keine geeigneten Schritte unternommen haben, um die Voraussetzungen für die volle Verwirklichung des Umgangsrechts des Vaters des Kindes zu schaffen
Eine klare Ansage an die italienischen Behörden, welche aber noch deutlicher werden sollte:
Konkrete Maßnahmen müssen eingeleitet werden
RZ 81. Das Gericht ist der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte unmittelbar nach der Trennung der Eltern, als das Kind erst ein Jahr alt war, keine konkreten und wirksamen Maßnahmen ergriffen haben, um die Herstellung eines wirksamen Umgangs zu ermöglichen, und es stellt fest, dass sie dann etwa sieben Jahre lang das Verhalten der Mutter geduldet haben, das die Herstellung einer echten Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kind verhindert hat. Sie stellt fest, dass der Verlauf des Verfahrens vor dem Gericht stattdessen eine Reihe automatischer und stereotyper Maßnahmen erkennen lässt, wie z. B. aufeinanderfolgende Auskunftsersuchen oder die Delegation der Überwachung der Familie an die Sozialdienste, zusammen mit der Verpflichtung der letzteren, das Umgangsrecht des Klägers zu organisieren und durchzusetzen
RZ 82 … Obwohl der Gerichtshof der Ansicht ist, dass das im italienischen Recht vorgesehene rechtliche Arsenal ausreicht, um den beklagten Staat in die Lage zu versetzen, die Einhaltung seiner positiven Verpflichtungen aus Artikel 8 der Konvention abstrakt zu gewährleisten, ist festzustellen, dass die Behörden im vorliegenden Fall keinen Gebrauch von den bestehenden rechtlichen Instrumenten gemacht und keine Maßnahmen in Bezug auf L.R. ergriffen haben …
RZ 83 Der Gerichtshof stellt fest, dass die nationalen Behörden im vorliegenden Fall angesichts des seit 2014 anhaltenden Widerstands der Mutter des Kindes und der Schwierigkeiten des Beschwerdeführers bei der Ausübung seines Umgangsrechts nicht unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden konnten, um das Recht des Beschwerdeführers auf Umgang und Herstellung einer Beziehung zu seinem Sohn durchzusetzen (vgl. Terna, a. a. O., § 73, Strumia, a. a. O., § 123).
Zu erwähnen ist, dass die Mutter wegen Kindesentführung eine Haftstrafe von einem Jahr und 8 Monaten verurteilt wurde, was aber nichts daran änderte, dass der Vater sein Kind nicht sehen konnte. Und schließlich leitet der Gerichtshof angesichts zahlreicher früherer Urteile zu einer Gesamtbeurteilung der italienischen Situation im Familienrecht über:
RZ 84 In diesem Zusammenhang erinnert der Gerichtshof daran, dass er bereits im Terna-Urteil (a. a. O., Rdnr. 97) festgestellt hat, dass in Italien ein systemisches Problem in Bezug auf Verzögerungen bei der Umsetzung von gerichtlich angeordneten Umgangsrechten besteht.
Entschädigung kann Verlust der Beziehung zum Kind nicht ersetzen
Dem Vater wurden 13.000 EUR Entschädigung sowie 15.000 EUR Kostenersatz zugesprochen. Ob solch lächerlich geringen Beträge den italienischen Staat aber zum Umlenken bewegen werden, darf bezweifelt werden. Hier bräuchte es mehr Druck, um Menschenrechte auch tatsächlich umzusetzen. Vielleicht wäre es eine Idee, über einen „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“ europäische Gelder, Subventionen und Förderungen davon abhängig zu machen, wie effektiv europäische Menschenrechte in den jeweiligen Mitgliedsländern umgesetzt werden.
Italien hat in der Entscheidung kein gutes Bild abgegeben. Man muss aber festhalten, dass solche Zustände deckungsgleich auch in Deutschland existieren und auch Deutschland deswegen auch bereits mehrfach vom EGMR verurteilt wurde. Eltern-Kind-Entfremdung ist eine Verletzung der Menschenrechte und ähnlich wie im Fall Pisica vs Moldavien müssen die staatlichen Behörden dieser mit besonderer Sorgfalt entgegen wirken.
Nachfolgend die Entscheidung des europäischen Gerichtshofes in, von hochstrittig.org erstellter, deutscher Übersetzung:
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall A.T. vs. Italien 40910/19 vom 24.06.2021, Übersetzung durch hochstrittig.org, im Original in französischer Sprache nachzulesen unter https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-210468%22]}
ERSTER ABSCHNITT
FALL A.T. vs. ITALIEN
(Antrag Nr. 40910/19)
URTEIL
Artikel 8 – Familienleben – Keine angemessenen, ausreichenden und unverzüglichen Bemühungen der nationalen Behörden, das gerichtlich angeordnete Umgangsrecht des Klägers durchzusetzen – Widerspruch der Mutter des Kindes
STRASBOURG
24. Juni 2021
Dieses Urteil wird unter den in Artikel 44 § 2 des Übereinkommens genannten Bedingungen rechtskräftig. Sie kann formalen Änderungen unterworfen sein.
In der Rechtssache A.T. gegen Italien
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Erste Sektion) hat in einer Kammer mit der Besetzung:
Ksenija Turković, Präsidentin,
Krzysztof Wojtyczek,
Alena Poláčková,
Péter Paczolay,
Raffaele Sabato,
Lorraine Schembri Orland,
Ioannis Ktistakis, Richter,
und Renata Degener, Sektionsregistratorin,
In Bezug auf:
die Klage (Nr. 40910/19) eines italienischen Staatsangehörigen, A.T., gegen die Italienische Republik („der Beschwerdeführer“), die am 23. Juli 2019 gemäß Artikel 34 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und von Grundrechten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht wurde,
die Entscheidung, den Antrag der italienischen Regierung („die Regierung“) zur Kenntnis zu bringen,
die Entscheidung, die Identität des Antragstellers nicht offenzulegen,
die Stellungnahmen der Parteien,
nach Beratung im Plenum am 18. Mai 2021
Verkündet das folgende Urteil, das an diesem Tag angenommen wurde:
EINLEITUNG
1. Der Antrag betrifft die angebliche Unfähigkeit des Klägers, sein Recht auf Umgang mit seinem Sohn auszuüben und ihn unter den von den Gerichten festgelegten Bedingungen zu sehen. Der Kläger rügt eine Verletzung seines Rechts auf Achtung seines Familienlebens.
DIE FAKTEN
2. Der Kläger wurde 1969 geboren und lebt in Z. B., Italien. Er wurde vertreten durch M. Picco und E. Nardoni, Rechtsanwälte in Udine.
3. Die Regierung wurde durch ihren Bevollmächtigten, Herrn L. D’Ascia, einen Staatsanwalt, vertreten.
4. Aus der Verbindung zwischen dem Kläger und L.R. wurde am 12. Februar 2014 ein Junge, M.T., geboren. Am 19. April 2014 verließ L.R. mit dem Kind die Wohnung der Familie, ohne die Zustimmung des Klägers.
5. Am 17. Oktober 2014 erstattete der Petent eine Anzeige gegen L.R. wegen des Verbrechens der Kindesentführung.
6. Am 29. Januar 2015 reichte der Kläger beim Gericht von Treviso eine Beschwerde gemäß Artikel 315 und 317bis des Zivilgesetzbuchs ein. Er klagte über Schwierigkeiten bei der Ausübung seines Besuchsrechts.
7. Am 1. Mai 2015 reichte der Antragsteller eine weitere Beschwerde mit der Begründung ein, dass L. R. ihn daran hindere, das Kind zu sehen.
8. Am 29. März 2016 wurde das Gutachten, das im Anschluss an die Begutachtung des Kindes und der Eltern erstellt worden war, bei der Gerichtskanzlei eingereicht. Nach Ansicht des Sachverständigen litt das Kind unter den schädlichen Folgen des fehlenden Kontakts zu seinem Vater in den ersten drei Jahren seines Lebens, einem Zeitraum, der als wichtig für die Bildung von Bindungen zwischen einem Elternteil und seinem Kind angesehen wird. L.R. war nicht für eine Wiederannäherung zwischen dem Kläger und seinem Sohn. Das Gutachten bewertete die Erziehungsfähigkeit der Klägerin positiv.
9. Am 25. Juli 2016 übergab das Gericht auf der Grundlage des über das Kind und beide Elternteile erstellten Gutachtens M.T. in die Obhut der öffentlichen Fürsorgedienste der Gemeinde Mogliano Veneto und legte den Hauptwohnsitz des Kindes bei L.R. fest. Es legte das Besuchsrecht des Klägers fest und ordnete einen psychologischen Unterstützungskurs für L.R. an.
10. L.R. legte gegen diese Entscheidung Berufung ein.
11. Am 27. Dezember 2016 zog L. R. ohne vorherige Genehmigung des Klägers oder des Gerichts um und ließ sich in Rom nieder, etwa sechshundert Kilometer vom Wohnort des Klägers entfernt.
12. Von diesem Zeitpunkt an konnte der Kläger seinen Sohn wegen des Widerstands von L. R. nicht mehr sehen.
13. Am 30. Januar 2017 wies das Berufungsgericht Venedig die Berufung von L.R. zurück und stellte fest, dass sich der Wohnsitz des Kindes in Z. befindet. B. Es bestätigte, dass das Sorgerecht für das Kind dem Sozialdienst von Mogliano Veneto übertragen wurde, und bestritt, dass der Umzug und die Unterbringung in Rom genehmigt worden seien, da diese Entfernung die Klägerin an der Ausübung der Mitelternschaft hindern würde.
14. Ungeachtet der Entscheidung des Gerichts weigerte sich L.R., wieder in Z.B. zu wohnen.
15. Am 10. April 2017 forderte der Sozialdienst von Mogliano Veneto L.R. auf, der Entscheidung des Berufungsgerichts nachzukommen.
16. Am 3. Mai 2017 stellte der Antragsteller einen Strafantrag wegen des Vergehens der Nichtbefolgung einer gerichtlichen Entscheidung (Artikel 388 des Strafgesetzbuchs).
17. Zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt legte L.R. beim Gericht in Rom Berufung ein, um das alleinige Sorgerecht für das Kind zu erhalten, ungeachtet der früheren Entscheidungen des Gerichts und des Berufungsgerichts von Treviso.
18. Am 10. Juli 2017 erhob der Antragsteller Klage vor dem Jugendgericht Venedig („das Gericht“) und machte geltend, dass L.R. ohne seine Zustimmung umgezogen sei und er deshalb seinen Sohn nicht sehen könne. Er bat das Gericht um eine Eilentscheidung und beantragte, L.R. die elterliche Sorge zu entziehen.
19. Am 11. Juli 2017 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Gericht Maßnahmen nach Artikel 330 und 333 des Zivilgesetzbuches. Es stützte seine Entscheidung auf die Berichte des Sozialdienstes, aus denen hervorging, dass L.R. nicht kooperativ war und die Klägerin verunglimpfte. Außerdem wurde das Kind, das eine Sprachverzögerung hatte, trotz der Anweisungen an L.R. nicht von einer Logopädin betreut.
20. Am 22. August 2017 fuhr der Beschwerdeführer in Kenntnis der Tatsache, dass das Kind ins Krankenhaus eingeliefert worden war, nach Rom, wurde aber trotz der Intervention der Polizei daran gehindert, es zu sehen.
21. Am 6. Januar 2018 fuhr der Beschwerdeführer wie geplant nach Rom, um das Kind zu sehen, aber als er ankam, fand er niemanden vor. Er ließ diese Situation von den Gendarmen feststellen und erstattete Anzeige.
22. Im Laufe des Jahres 2018 konnte der Antragsteller seinen Sohn einige Male während der Krankenhausaufenthalte des Kindes in Rom sehen, allerdings im Beisein von L.R. und ihren Eltern.
23. Trotz der wiederholten Anträge des Klägers entschied das Gericht in Venedig erst zwei Jahre später über die Angelegenheit. In einer Entscheidung vom 25. Februar 2019 äußerte sich das Gericht, das zu beurteilen hatte, ob das Verhalten von L.R., der ohne Zustimmung des Antragstellers und der Gerichte nach Rom gezogen war, dem Kind geschadet hat, wie folgt:
„Das Gericht stellt die Entscheidung von L.R., umzuziehen, nicht in Frage, weil es einem Elternteil freisteht, sich nach Belieben in der Gegend zu bewegen. Fragwürdig ist jedoch, dass L.R. als Grund für den dauerhaften Wegzug in eine weit vom Wohnort der Klägerin entfernte Stadt die Notwendigkeit der Behandlung des Kindes angibt, während das Kind sehr wohl in seiner Herkunftsregion hätte behandelt werden können. Auf diese Weise hatte L.R. die Krankheit des Kindes ausgenutzt. Außerdem erschwerte die räumliche Entfernung zwischen den Eltern dem Antragsteller die Aufrechterhaltung der Beziehungen zu dem Kind, insbesondere in den ersten Lebensjahren des Kindes. „
24. Das Gericht stellte fest, dass L.R. gegen die Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen dem Antragsteller und ihrem Sohn war, dass sie dem Antragsteller nie erlaubt hatte, im Leben des Kindes anwesend zu sein, und dass sie durch ihr Verhalten dem Kind geschadet hatte. Es stellte auch fest, dass L.R. die Klägerin verunglimpft hat, dass sie das Kind entgegen der Empfehlung des Sozialdienstes nicht von Fachärzten betreuen ließ und dass sie sich auch weigerte, das Kind impfen zu lassen, so dass es nicht in den Kindergarten angemeldet werden konnte. Es kam zu dem Schluss, dass dieses Verhalten dem Kind schadet, stellte aber fest, dass es eine Folge des Konflikts zwischen L.R. und dem Antragsteller war. Das Gericht stellte fest, dass es nicht im Interesse des Kindes ist, dass sein Hauptwohnsitz auf den Antragsteller übertragen wird oder dass er von L.R. entfernt wird.
25. Infolgedessen beschloss das Gericht, die elterliche Sorge von L.R. einzuschränken; es übertrug das Kind in die Obhut der öffentlichen Hilfsdienste der Gemeinde Rom und wies diese an, ein psychologisches Unterstützungsprogramm für das Kind und L.R. zu erstellen, einen Zeitplan für die Treffen zwischen der Klägerin und dem Kind aufzustellen, eine Mediation zwischen der Klägerin und L.R. einzurichten und der Staatsanwaltschaft jede Nichteinhaltung der gerichtlichen Anordnungen durch L.R. zu melden.
26. Alle zwei Wochen wurden einstündige Treffen angesetzt.
27. Am 10. März 2019 schickte der Antragsteller eine E-Mail an den Sozialdienst und fragte nach dem Namen der Person, die seinen Sohn überwachen sollte. Er erhielt keine Antwort.
28. Am selben Tag schickte er eine E-Mail an den für den Fall zuständigen Beamten der Stadtverwaltung Rom, um ihm mitzuteilen, dass L.R. trotz der vom Gericht erteilten Anweisungen seine Telefonanrufe nicht beantwortete und ihn nicht über den Gesundheitszustand seines Sohnes informierte und dass außerdem kein Treffen angesetzt worden war.
29. Am 28. März 2019 schickte der Antragsteller eine Nachricht an den Leiter des Sozialdienstes. Er wurde darüber informiert, dass kein Personal für die Überwachung der Sitzungen zur Verfügung steht.
30. Seine E-Mails an den Sozialdienst am 22. und 27. April 2019 blieben unbeantwortet.
31. Am 11. Juni 2019 konnte der Petent mit der Leiterin des Sozialdienstes sprechen. Am 19. August 2019 teilte er dem Sozialdienst mit, dass L.R. den Wohnsitz des Kindes gewechselt habe, ohne ihn darüber zu informieren.
32. Im September 2019, als L.R. die Treffen immer noch ablehnte, wurde eine Vereinbarung über eine Regelung von zwei Besuchen pro Monat getroffen.
33. Das erste Treffen zwischen dem Kläger und seinem Sohn fand am 24. Oktober 2019 statt, sieben Monate nach der Entscheidung des Gerichts in Venedig.
34. Das Treffen im November fand nicht statt, da L.R. sich weigerte, das Kind dorthin zu bringen.
35. Am 28. November 2019 wurde der Strafprozess gegen L.R. und ihre Eltern eröffnet. L.R. wurde wegen Kindesentführung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt.
36. Am 1. Februar 2020 reichte die Klägerin eine Beschwerde gegen L.R. wegen Nichtbefolgung der Entscheidung des Gerichts von Venedig ein.
37. Im Jahr 2020 konnte der Antragsteller seinen Sohn am 16. und 30. Januar sowie am 20. Februar treffen.
38. Vom 28. Februar 2020 bis Juli 2020 konnte der Beschwerdeführer sein Kind nicht sehen, weil das Zentrum, in dem die Besuche stattfinden sollten, nicht zur Verfügung stand, ungeachtet der Dekrete des Präsidenten des Ministerrats (DPCM) vom 8. und 9. März (siehe Rdnrn. 45-46), die Reisen zuließen, die durch die Ausübung des Besuchs- und Aufenthaltsrechts begründet waren.
39. Am 7. Juli 2020 teilte der Sozialdienst in Rom der Klägerin mit, dass die Treffen nicht wieder aufgenommen werden könnten, weil L.R. Einspruch erhoben habe.
40. Am 18. August 2020 bat der Antragsteller den Sozialdienst, ihm Informationen über den Gesundheitszustand seines Sohnes, der noch nicht geimpft worden war, und über die psychologische Betreuung von L.R. zu übermitteln.
DEN JEWEILIGEN NATIONALEN RECHTSRAHMEN
41. Das im vorliegenden Fall maßgebliche innerstaatliche Recht ist im Urteil in der Rechtssache R.V. und andere gegen Italien (Nr. 37748/13, §§ 65-69, 18. Juli 2019) beschrieben.
42. Nach dem ersten Absatz des Artikels 337 ter des Bürgerlichen Gesetzbuches hat ein minderjähriges Kind das Recht auf eine ausgewogene und kontinuierliche Beziehung zu jedem seiner Elternteile, auf Pflege, Erziehung und moralischen Beistand von beiden Elternteilen und auf sinnvolle Beziehungen zu den Angehörigen und Verwandten eines jeden elterlichen Zweiges. Nach dem zweiten Absatz desselben Artikels hat der Richter zur Erreichung des im ersten Absatz genannten Ziels in dem in Artikel 337 bis des Zivilgesetzbuchs genannten Verfahren Maßnahmen in Bezug auf die Abkömmlinge zu treffen, die sich ausschließlich auf deren moralische und materielle Interessen beziehen. Der Richter prüft vorrangig die Möglichkeit, dass die minderjährigen Kinder in der Obhut beider Elternteile verbleiben, oder entscheidet in Ermangelung dessen, wem die Kinder anvertraut werden, und bestimmt die Zeit und die Art und Weise ihrer Anwesenheit bei jedem Elternteil sowie den Anteil und die Art und Weise, in der jeder Elternteil zum Unterhalt, zur Pflege, zur Erziehung und zum Unterricht der Kinder beitragen soll. Der Richter kann die Sorgerechtsregelungen ändern und die verschiedenen zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarungen zur Kenntnis nehmen.
Der Richter ist zuständig für die Umsetzung von Entscheidungen über die Sorgerechtsregelung und kann auch von Amts wegen bei der Unterbringung von Familien eingreifen. Zu diesem Zweck sendet der Staatsanwalt eine Kopie der Unterbringungsentscheidung an den Vormundschaftsrichter.
43. Der Artikel 709 ter der Zivilprozessordnung lautet in seinem für diesen Fall relevanten Teil wie folgt
„Der Richter ist auch zuständig für die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Eltern über die Ausübung der elterlichen Sorge oder über die Sorgerechtsregelung.
Der Richter lädt die Parteien vor und trifft die entsprechenden Maßnahmen. Bei schwerwiegenden Verstößen oder Handlungen, die dem Kind in irgendeiner Weise schaden oder die ordnungsgemäße Durchführung der Sorgerechtsregelung beeinträchtigen, kann das Gericht die geltenden Maßnahmen abändern und kann gleichzeitig
1. eine Warnung an den säumigen Elternteil ausgeben;
2. einen der Elternteile anweisen, dem Kind Schadensersatz zu leisten;
3. anordnen, dass ein Elternteil dem anderen eine Entschädigung zu zahlen hat;
4. den säumigen Elternteil zur Zahlung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 75 bis 5 000 EUR zu verurteilen (…)“.
44. Artikel 614 bis der Zivilprozessordnung sieht wie folgt aus:
„Indirekte Zwangsmaßnahmen:
Bei der Anordnung der Erfüllung anderer Verpflichtungen als der Zahlung von Geldbeträgen setzt der Richter, sofern dies nicht offensichtlich missbräuchlich ist, auf Antrag der Partei den Betrag fest, den der Schuldner für jede spätere Verletzung oder Nichterfüllung oder für jede Verzögerung bei der Erfüllung der Anordnung schuldet. Die Anordnung stellt einen Vollstreckungstitel für die Zahlung der Beträge dar, die für jeden Verstoß oder jede Nichteinhaltung fällig sind.
Der Richter bestimmt die Höhe des in Absatz 1 genannten Betrags unter Berücksichtigung des Streitwerts, der Art der Leistung, des bezifferten oder vorhersehbaren Schadens und aller sonstigen nützlichen Umstände. „
45. Infolge der COVID-19-Pandemie und als Teil der von der Regierung ergriffenen Eindämmungsmaßnahmen wurden am 8. und 9. März 2020 durch zwei DPCMs (Dekret des Präsidenten des Ministerrats) alle Reisen verboten, außer denen, die durch nachgewiesene berufliche Erfordernisse, Situationen der Notwendigkeit oder gesundheitliche Gründe begründet sind.
46. Am 9. April 2020 wurde auf der Website des Innenministeriums eine Liste mit häufig gestellten Fragen (FAQ) veröffentlicht. Es wurde festgestellt:
„Fahrten, um minderjährige Kinder in die Wohnung des anderen Elternteils oder des Pflegeelternteils zu bringen oder um Kinder in seine Wohnung zu holen, sind auch von einer Gemeinde zur anderen erlaubt. Diese Fahrten müssen in jedem Fall auf dem kürzesten Weg und unter Einhaltung aller gesundheitlichen Vorschriften (Quarantäne, positive, immungeschwächte Personen usw.) sowie in der vom Richter in Trennungs- oder Scheidungsurteilen vorgeschriebenen Weise oder andernfalls gemäß der Vereinbarung zwischen den Eltern durchgeführt werden.
IM RECHT ÜBER DEN ANGEBLICHEN VERSTOSS GEGEN ARTIKEL 8 DER KONVENTION
47. Unter Berufung auf die Artikel 6 und 8 behauptete der Beschwerdeführer, die Mutter seines Kindes habe sich ihm widersetzt und die inländischen Behörden hätten nicht unverzüglich Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass sein Umgangsrecht durchgesetzt werde. Er macht geltend, dass ihm damit die Möglichkeit genommen wird, sein Umgangsrecht unter den von den Gerichten festgelegten Bedingungen auszuüben, und sieht darin eine Verletzung seines Rechts auf Familienleben. Er argumentiert, dass er seit 2014 keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn allein gehabt habe.
48. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er nicht an die von einem Beschwerdeführer nach der Konvention und ihren Protokollen geltend gemachten Rechtsgründe gebunden ist und dass er über die rechtliche Einordnung des Sachverhalts einer Beschwerde entscheiden kann, indem er sie auf der Grundlage anderer Artikel oder Bestimmungen der Konvention prüft als derjenigen, auf die sich der Beschwerdeführer beruft (Radomilja u. a. gegen Kroatien [GC], Nr. 37685/10 und 22768/12, § 126, 20. März 2018).
49. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass Artikel 6 zwar eine Verfahrensgarantie bietet, nämlich das „Recht auf ein Gericht“, das über „Rechte und Pflichten in einem Rechtsstreit“ verhandelt, dass Artikel 8 aber dem weitergehenden Zweck dient, die Achtung des Privat- und Familienlebens zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang erinnert es daran, dass Artikel 8 zwar keine ausdrücklichen Verfahrensanforderungen enthält, der Entscheidungsprozess in Bezug auf Eingriffsmaßnahmen jedoch fair und angemessen sein muss, um die durch diese Bestimmung geschützten Interessen zu wahren (Petrov und X v. Russia, no. 23608/16, § 101, 23. Oktober 2018).
In Anbetracht des engen Zusammenhangs zwischen den Beschwerden prüft der Gerichtshof die Klage ausschließlich nach Artikel 8, der wie folgt lautet:
„(1) Jeder hat das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seiner Korrespondenz.
2. Eine Behörde darf nicht in die Ausübung dieses Rechts eingreifen, es sei denn, dies ist gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, des wirtschaftlichen Wohls des Landes, der Verhütung von Unruhen oder Verbrechen, des Schutzes der Gesundheit oder der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig. „
Zulässigkeit
50. Die Regierung argumentierte, dass der innerstaatliche Rechtsweg nicht ausgeschöpft worden sei, weil der Beschwerdeführer keine Berufung beim Berufungsgericht eingelegt habe. Er hatte auch keinen Ersatz für den Schaden verlangt, der dem Minderjährigen durch die unterlassene Mitteilung des Wohnsitzwechsels entstanden war, und er hatte auch keine Beschwerde bei dem Vormundschaftsrichter eingelegt, der für die Überwachung der Durchführung der Maßnahmen zuständig war. Außerdem hat der Antragsteller nicht, wie im Pinto-Gesetz vorgesehen, Beschwerde gegen die Dauer des Verfahrens eingelegt.
51. Der Antragsteller erklärte, dass er vor dem Jugendgericht von Venedig erfolgreich gewesen sei, das die elterliche Sorge für L.R. aufgehoben habe, indem es eine psychologische Behandlung für ihn angeordnet habe. Der Antragsteller erinnerte daran, dass es im vorliegenden Fall um die Nichtbeachtung verschiedener Entscheidungen der inländischen Gerichte (Gericht Treviso, Berufungsgericht Venedig, Kindergericht Venedig) ging.
52. In Bezug auf den Antrag Pinto betonte der Antragsteller, dass es sich um einen Antrag auf Entschädigung und nicht um einen Antrag auf Beschleunigung des Verfahrens handele, und dass der Gerichtshof ähnliche Einwände bereits in Fällen, die Artikel 8 der Konvention betrafen, zurückgewiesen habe.
53. Das Gericht stellt fest, dass sich die Beschwerde des Klägers auf die Frage der Umsetzung des Umgangsrechts gemäß den Bedingungen des Gerichtsbeschlusses bezieht. Er erinnert daran, dass er bereits in früheren Urteilen gegen Italien (Terna gegen Italien, Nr. 21052/18, § 90, 14. Januar 2021; Strumia gegen Italien, Nr. 53377/13, § 90, 23. Juni 2016, Lombardo gegen Italien, Nr. 25704/11, § 63, 29. Januar 2013, und Nicolò Santilli gegen Italien, Nr. 53377/13, § 90, 23. Juni 2016) entschieden hat, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen nicht ausreichend sind. Italien, Nr. 51930/10, § 46, 17. Dezember 2013), dass die Entscheidungen des Kindergerichts, die unter anderem das Umgangsrecht betrafen, nicht endgültig waren und daher jederzeit im Lichte der Ereignisse im Zusammenhang mit der fraglichen Situation geändert werden konnten. Die Entwicklung des innerstaatlichen Verfahrens ist also die Folge der Nicht-Endgültigkeit der jugendgerichtlichen Entscheidungen über den Umgang. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof im vorliegenden Fall fest, dass der Beschwerdeführer seit 2014 nicht in der Lage war, sein Umgangsrecht in vollem Umfang auszuüben, und dass er seinen Antrag bei ihm im Jahr 2019 einreichte, nachdem er mehrere Verfahren vor den inländischen Gerichten angestrengt hatte. Darüber hinaus stellt es fest, dass der Beschwerdeführer sich über eine Situation beschwert, die seit 2014 andauert und bis heute nicht beendet ist, und dass ihm dieser innerstaatliche Rechtsbehelf zur Verfügung stand, um sich über die Unterbrechung des Kontakts zu seinem Sohn zu beschweren (siehe Terna, a.a.O., § 90; Strumia, a.a.O., § 90, Lombardo v. Italy, no. 25704/11, § 63, 29. Januar 2013, und Nicolò Santilli, a.a.O., § 46).
54. Was das angebliche Versäumnis des Beschwerdeführers betrifft, den Pinto-Rechtsbehelf auszuschöpfen, um sich über die Dauer des Verfahrens zu beschweren, erinnert der Gerichtshof daran, dass er in Verfahren, deren Dauer eindeutige Auswirkungen auf das Familienleben des Beschwerdeführers hat (und die daher in den Anwendungsbereich von Artikel 8 der Konvention fallen), entschieden hat, dass ein strengerer Ansatz erforderlich ist, der die Staaten verpflichtet, einen Rechtsbehelf einzurichten, der sowohl präventiv als auch kompensatorisch ist (Kuppinger gegen. Deutschland, Nr. 62198/11, § 143, 15. Januar 2015, und Macready v. the Czech Republic, Nr. 4824/06 und 15512/08, § 48, 22. April 2010). Der Gerichtshof stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die positive Verpflichtung des Staates, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht des Antragstellers auf Achtung seines Familienlebens zu gewährleisten, Gefahr läuft, illusorisch zu werden, wenn dem Betroffenen nur ein kompensatorischer Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der nur zu einer nachträglichen Zuerkennung einer Geldentschädigung führen kann (Macready, ebd.).
55. Da der Gerichtshof feststellt, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet oder aus einem anderen Grund nach Artikel 35 der Konvention unzulässig ist, erklärt er sie für zulässig.
Die Argumente für
Die Stellungnahmen der Parteien
(a) Der Antragsteller
56. Der Beschwerdeführer erinnerte daran, dass er seine Vaterrolle ausschließlich vom 12. April 2014, dem Tag der Geburt seines Sohnes, bis zum 19. Juli 2014, dem Tag, an dem sein Sohn von L. R. entführt wurde, ausüben konnte. Er gab an, dass er seit 2014 insgesamt nur 126 Stunden allein mit seinem Sohn verbringen konnte.
57. Er gibt an, dass er seinen Sohn bis heute nicht sehen konnte, trotz aller Entscheidungen, die ihm den Zugang gewähren. Er trägt vor, dass die Behörden sieben Jahre lang den Widerstand der Mutter gegen jede Beziehung zwischen ihm und dem Kind geduldet haben. Er fügt hinzu, dass sich L.R. trotz der Entscheidung, das Sorgerecht für das Kind an den Sozialdienst zu übergeben, weiterhin so verhält, dass die Behörden untätig bleiben und dass keine angemessenen Maßnahmen ergriffen wurden, um die Wiederaufnahme der Treffen wirksam zu fördern.
58. Er macht geltend, dass die Gerichte in dieser Zeit der Mutter des Kindes erlaubten, die Modalitäten des Umgangs zwischen der Klägerin und ihrem Sohn einseitig zu wählen. Er erinnerte daran, dass dieses Verhalten vom Gerichtshof bereits im Urteil Improta gegen Italien (Nr. 66396/14, 4. Mai 2017) kritisiert worden war.
59. Er argumentiert, dass der Staat durch seine Organe (einschließlich der Sozialdienste) angemessene und wirksame Anstrengungen unternehmen muss, um gerichtliche Entscheidungen zum Wohl des Kindes durchzusetzen, und dass die Anwendung von Sanktionen gegen den zusammenlebenden Elternteil, der durch sein unrechtmäßiges Verhalten die Beziehung zum anderen Elternteil behindert, nicht ausgeschlossen werden kann (V.A.M. v. Serbia, no. 39177/05, 13. März 2007).
60. Der Beschwerdeführer stellt fest, dass die inländischen Gerichte in diesem Fall nicht einmal in Erwägung zogen, Zwang anzuwenden, um die Gerichtsentscheidungen durchzusetzen, mit denen die Rechtswidrigkeit der Verlegung des Wohnsitzes des Kindes durch L.R. anerkannt wurde. Er trug vor, dass die Behörden angesichts der Obstruktion und der völligen Unkooperation der Mutter des Kindes (die im Übrigen wegen einer Straftat verurteilt worden war) nichts unternommen hätten und die zu Gunsten des Klägers ergangenen Urteile wirkungslos geblieben seien.
(b) Die Regierung
61. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass den italienischen Behörden nicht vorgeworfen werden könne, dass sie nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen hätten. Sie behauptete, dass die Sozialdienste mehrfach interveniert hätten, um den Kontakt zwischen dem Kläger und seinem Sohn zu erleichtern. Insbesondere die Staatsanwaltschaft und das Sozialamt hatten das Gericht gebeten, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, und die Behörden hatten L.R. auch verboten, nach Rom zu ziehen.
62. Die Regierung argumentierte weiter, dass die innerstaatlichen Entscheidungen im Interesse des Kindes getroffen worden seien. Es vertrat die Auffassung, dass die plötzliche Beendigung der Beziehung zwischen dem Kind und der Mutter, bei der es lebte, für ein Kind unter fünf Jahren ein Trauma darstellen würde, das nicht allein zu dem Zweck zugefügt werden kann, die Wirksamkeit der Treffen mit seinem Vater zu gewährleisten.
63. Die Regierung trug vor, dass der Antragsteller nicht bewiesen habe, dass er seinen Sohn seit 2016 nicht mehr gesehen habe.
64. Die Regierung trug vor, dass das Gericht in Venedig am 4. Mai 2015 zum Schutz des Kindeswohls entschieden habe, den Hauptwohnsitz des Kindes bei L.R. einzurichten, obwohl es die Sozialdienste mit der Aufgabe betraut habe, psychologische Unterstützung für das Kind und L.R. zu leisten. Diese Entscheidung sei angeblich zum Wohl des Kindes getroffen worden.
65. Was die Dauer des Verfahrens vor dem Jugendgericht Venedig betrifft, brachte die Regierung vor, dass sie auf die Komplexität des Falles zurückzuführen sei.
Die Beurteilung des Gerichts
(a) Allgemeine Grundsätze
66. Wie der Gerichtshof wiederholt in Erinnerung gerufen hat, bezweckt Artikel 8 der Konvention zwar im Wesentlichen den Schutz des Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der öffentlichen Hand, verlangt aber nicht nur, dass der Staat solche Eingriffe unterlässt: Zusätzlich zu dieser eher negativen Verpflichtung kann es positive Verpflichtungen geben, die mit der tatsächlichen Achtung des Privat- oder Familienlebens verbunden sind. Diese können die Verabschiedung von Maßnahmen beinhalten, die darauf abzielen, das Familienleben auch in den Beziehungen zwischen Einzelpersonen zu respektieren, einschließlich der Schaffung eines angemessenen und ausreichenden rechtlichen Arsenals, um die legitimen Rechte der betroffenen Personen zu garantieren und die Einhaltung gerichtlicher Entscheidungen zu gewährleisten, oder geeignete spezifische Maßnahmen (siehe, mutatis mutandis, Zawadka v. Poland, no. 48542/99, § 53, 23. Juni 2005). Dieses Arsenal muss den Staat in die Lage versetzen, Maßnahmen zu ergreifen, um den Elternteil mit seinem Kind wieder zusammenzuführen, auch in Fällen von Konflikten zwischen den beiden Elternteilen (siehe, mutatis mutandis, Ignaccolo-Zenide v. Rumänien, Nr. 31679/96, § 108, EGMR 2000-I, Sylvester gegen Österreich, Nr. 36812/97 und 40104/98, § 68, 24. April 2003, Zavřel gegen die Tschechische Republik, Nr. 14044/05, § 47, 18. Januar 2007, und Mihailova gegen Bulgarien, Nr. 35978/02, § 80, 12. Januar 2006). Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass positive Verpflichtungen sich nicht darauf beschränken, dem Kind den Umgang mit seinem Elternteil zu ermöglichen, sondern auch alle vorbereitenden Maßnahmen umfassen, um dieses Ergebnis zu erreichen (siehe mutatis mutandis, Kosmopoulou v. Griechenland, Nr. 60457/00, § 45, 5. Februar 2004, Amanalachioai gegen Rumänien, Nr. 4023/04, § 95, 26. Mai 2009, Ignaccolo-Zenide, §§ 105 und 112, und Sylvester, § 70, beide oben zitiert).
67. Das Gericht wiederholt auch, dass die Tatsache, dass die Bemühungen der Behörden vergeblich waren, nicht automatisch zu der Schlussfolgerung führt, dass der Staat seine positiven Verpflichtungen nach Artikel 8 der Konvention nicht erfüllt hat (siehe Nicolò Santilli, a.a.O., § 67). Die Verpflichtung der nationalen Behörden, Maßnahmen zu ergreifen, um das Kind mit dem Elternteil, bei dem es nicht lebt, wieder zusammenzuführen, ist nämlich nicht absolut, und das Verständnis und die Zusammenarbeit aller betroffenen Personen ist immer ein wichtiger Faktor. Während die nationalen Behörden sich bemühen müssen, eine solche Zusammenarbeit zu erleichtern, kann jede Verpflichtung für sie, in dieser Angelegenheit Zwang anzuwenden, nur begrenzt sein: Sie müssen die Interessen und Rechte und Freiheiten derselben Personen berücksichtigen, einschließlich des Kindeswohls und der Rechte des Kindes nach Artikel 8 der Konvention (Voleský v. the Czech Republic, no. 63267/00, § 118, 29. Juni 2004).
68. In Bezug auf das Familienleben eines Kindes erinnert der Gerichtshof daran, dass es inzwischen einen breiten Konsens – auch im internationalen Recht – gibt, dass bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, deren Wohl im Vordergrund stehen muss (siehe u. a. Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz [GC], Nr. 41615/07, § 135, EMRK 2010). Er betont außerdem, dass in Fällen, in denen es um Fragen der Unterbringung von Kindern und um Umgangsbeschränkungen geht, die Interessen des Kindes Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben müssen (siehe Strand Lobben und andere gegen Norwegen [GC], Nr. 37283/13, § 204, 10. September 2019). Bei der Anwendung von Zwang in diesem sensiblen Bereich ist äußerste Vorsicht geboten (Mitrova und Savik v. the former Yugoslav Republic of Macedonia, no. 42534/09, § 77, 11. Februar 2016, und Reigado Ramos v. Portugal, no. 73229/01, § 53, 22. November 2005). Entscheidend ist daher, ob die nationalen Behörden im vorliegenden Fall alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden konnten, um Besuche zwischen dem Elternteil und dem Kind zu erleichtern (Nuutinen v. Finnland, Nr. 32842/96, § 128, EGMR 2000-VIII).
(b) Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall
69. Was den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache anbelangt, so ist der Gerichtshof der Ansicht, dass es unter den ihm vorliegenden Umständen seine Aufgabe ist, zu prüfen, ob die nationalen Behörden alle Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden konnten, um die Beziehung zwischen dem Kläger und seinem Sohn aufrechtzuerhalten (Bondavalli v. Italien, Nr. 35532/12, § 75, 17. November 2015) und die Art und Weise zu prüfen, in der sie zur Erleichterung der Ausübung des Umgangsrechts des Klägers im Sinne der Gerichtsentscheidungen eingegriffen haben (siehe Hokkanen gegen Finnland, 23. September 1994, § 58, Serie A Nr. 299-A, und Kuppinger, oben zitiert, § 105). Es erinnert auch daran, dass in einem Fall dieser Art die Angemessenheit einer Maßnahme danach beurteilt wird, wie schnell sie umgesetzt wird (siehe Piazzi gegen Italien, Nr. 36168/09, § 58, 2. November 2010), da allein der Zeitablauf Auswirkungen auf die Beziehung eines Elternteils zu seinem Kind haben kann.
70. Das Gericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer ab 2015, als das Kind erst elf Monate alt war, immer wieder die Anberaumung von Treffen bei Gericht beantragte, sein Umgangsrecht aber nicht ausüben konnte, weil sich L. R. dagegen wehrte, die die Wohnung der Familie verlassen hatte und ihn daran hinderte, Kontakt mit dem Kind zu haben.
71. Im Jahr 2016 stellte das Gericht in Treviso fest, dass der Antragsteller seinen Sohn nicht sehen konnte und dass L.R. sich weiterhin Treffen zwischen dem Antragsteller und dem Kind widersetzte.
72. Ab Dezember 2016, nachdem die Mutter des Kindes ohne Zustimmung der Gerichte und des Antragstellers in eine andere, etwa sechshundert Kilometer entfernte Stadt gezogen war, konnte dieser seinen Sohn nicht mehr sehen, insbesondere wegen der Weigerung der Mutter, Treffen zu vereinbaren.
73. Das Gericht stellt fest, dass L.R. ungeachtet der Entscheidung des Berufungsgerichts Venedig vom 30. Januar 2017, in der der Wohnsitz des Kindes in Z.B. festgestellt und die Genehmigung des Umzugs nach Rom verweigert wurde, seinen Wohnsitz in Rom festgelegt hat.
74. Daraufhin erhob der Antragsteller am 10. Juli 2017 erneut Klage vor dem Jugendgericht Venedig und machte geltend, dass L.R. ohne Genehmigung umgezogen sei und es ihm deshalb unmöglich sei, seinen Sohn zu sehen, weil sie die Treffen ablehne.
75. Im Jahr 2017 wurde das Gericht trotz der von der Staatsanwaltschaft und dem Antragsteller beim Gericht von Venedig eingelegten Rechtsmittel und des Berichts der Sozialdienste nicht tätig. Das Gericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer, um seinen Sohn sehen zu können, gezwungen war, das Einschreiten der Polizei zu beantragen.
76. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Gericht von Venedig zwei Jahre gewartet hat, bevor es eine Entscheidung traf. Es erkannte zwar an, dass das Verhalten von L.R. dem Kind schadete, war aber der Ansicht, dass es nicht im Interesse des Kindes sei, von L.R. getrennt zu werden, und legte daher den Hauptwohnsitz des Kindes bei seiner Mutter fest, wobei es dem Antragsteller ein Besuchsrecht gewährte.
77. Das Gericht stellt fest, dass der Kläger bis heute nicht in der Lage ist, dieses Umgangsrecht auszuüben, da L.R. Einwände erhebt und Treffen nicht vereinbart werden.
78. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es ihm nicht zusteht, seine Beurteilung der Maßnahmen, die hätten ergriffen werden müssen, an die Stelle der Beurteilung durch die zuständigen nationalen Behörden zu setzen, da diese grundsätzlich besser in der Lage sind, eine solche Beurteilung vorzunehmen, insbesondere weil sie in unmittelbarem Kontakt mit dem Hintergrund des Falles und den beteiligten Parteien stehen (siehe Reigado Ramos, a.a.O., § 53). Im vorliegenden Fall kann sie jedoch den oben dargelegten Sachverhalt nicht außer Acht lassen (siehe oben, Randnrn. 70-77). Insbesondere stellt sie fest, dass der Beschwerdeführer seit 2014 kontinuierlich versucht hat, Kontakt zu seinem Sohn herzustellen, und dass die Behörden trotz verschiedener Entscheidungen des Jugendgerichts und des Berufungsgerichts keine Lösung gefunden haben, um ihm die regelmäßige Ausübung seines Umgangsrechts zu ermöglichen. Die Warnung des Gerichts in Venedig hatte keine Wirkung auf L.R., die den Antragsteller weiterhin an der Ausübung seines Umgangsrechts hinderte und sogar ohne die Zustimmung des Antragstellers und der Gerichte sechshundert Kilometer weit weg zog. Dieses Verhalten setzt sich bis heute fort, trotz einer neuen Entscheidung des Jugendgerichts und der strafrechtlichen Verurteilung der Antragstellerin wegen der Entführung eines Minderjährigen.
79. Das Gericht erkennt an, dass die Behörden im vorliegenden Fall mit einer sehr schwierigen Situation konfrontiert waren, die sich insbesondere aus den Spannungen zwischen den Eltern des Kindes ergab. Es räumt ein, dass die Unfähigkeit des Klägers, sein Umgangsrecht auszuüben, zunächst hauptsächlich auf die offensichtliche Weigerung der Mutter des Kindes, dann auf die Weigerung des Kindes und die Entfernung zwischen dem Wohnort des Kindes und dem des Klägers zurückzuführen war. Es erinnert jedoch daran, dass ein Mangel an Kooperation zwischen den getrennten Eltern die zuständigen Behörden nicht davon entbinden kann, alle Mittel einzusetzen, die geeignet sind, die Aufrechterhaltung der familiären Bindung zu ermöglichen (Nicolò Santilli, § 74, Lombardo, § 91, und Zavřel, § 52, alle oben zitiert).
80. Das Gericht ist der Auffassung, dass die Behörden im vorliegenden Fall nicht die gebotene Sorgfalt walten ließen und hinter dem zurückblieben, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte. Insbesondere ist es der Ansicht, dass die inländischen Gerichte keine geeigneten Schritte unternommen haben, um die Voraussetzungen für die volle Verwirklichung des Umgangsrechts des Vaters des Kindes zu schaffen (Bondavalli, § 81, Macready, § 66, Piazzi, § 61, und Strumia, § 122, alle oben zitiert). Sie stellt insbesondere fest, dass die Sozialdienste in Rom trotz der gerichtlichen Entscheidungen, mit denen die Organisation von Treffen angeordnet wurde, erst sehr spät tätig wurden (siehe oben, Randnrn. 27-33), dass sie nur einen Besuch organisierten und dass sie den Kläger nicht über die Situation seines Sohnes auf dem Laufenden hielten.
81. Das Gericht ist der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte unmittelbar nach der Trennung der Eltern, als das Kind erst ein Jahr alt war, keine konkreten und wirksamen Maßnahmen ergriffen haben, um die Herstellung eines wirksamen Umgangs zu ermöglichen, und es stellt fest, dass sie dann etwa sieben Jahre lang das Verhalten der Mutter geduldet haben, das die Herstellung einer echten Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kind verhindert hat. Sie stellt fest, dass der Verlauf des Verfahrens vor dem Gericht stattdessen eine Reihe automatischer und stereotyper Maßnahmen erkennen lässt, wie z. B. aufeinanderfolgende Auskunftsersuchen oder die Delegation der Überwachung der Familie an die Sozialdienste, zusammen mit der Verpflichtung der letzteren, das Umgangsrecht des Klägers zu organisieren und durchzusetzen (siehe Lombardo, a.a.O., § 92, und Piazzi, a.a.O., § 61). Das Sozialamt hatte seinerseits zu spät gehandelt und die gerichtlichen Anordnungen nicht ordnungsgemäß umgesetzt.
82. Das Gericht stellt fest, dass die Sozialdienste es versäumt haben, während der ersten Zeit der Inhaftierung und weit darüber hinaus Treffen zu organisieren (siehe Rdnr. 38), während Besuche zum Zweck der Ausübung des Besuchs- und Unterbringungsrechts genehmigt wurden (siehe Rdnr. 45-46). Obwohl der Gerichtshof der Ansicht ist, dass das im italienischen Recht vorgesehene rechtliche Arsenal ausreicht, um den beklagten Staat in die Lage zu versetzen, die Einhaltung seiner positiven Verpflichtungen aus Artikel 8 der Konvention abstrakt zu gewährleisten, ist festzustellen, dass die Behörden im vorliegenden Fall keinen Gebrauch von den bestehenden rechtlichen Instrumenten gemacht und keine Maßnahmen in Bezug auf L.R. ergriffen haben, Darüber hinaus erlaubten sie ihr, mit ihrem Sohn an einen Ort zu ziehen, der sechshundert Kilometer von der Wohnung des Klägers entfernt ist, ohne dessen Zustimmung und entgegen der Entscheidung des Berufungsgerichts; insbesondere tat L.R. dies, ohne sich zuvor mit dem Kläger auf einen Plan für die gemeinsame Elternschaft zu einigen oder diesen den Gerichten zur Genehmigung vorzulegen. Danach versäumten es die Behörden, frühere Entscheidungen des Gerichts von Treviso und des Berufungsgerichts von Venedig umzusetzen, mit denen der Klägerin Zugang gewährt wurde. Darüber hinaus stellt das Gericht fest, dass L.R. wegen Kindesentführung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt wurde, was jedoch nichts an der Situation des Beschwerdeführers änderte, dem weiterhin der Umgang mit dem Kind verwehrt wurde. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass die Behörden eine Situation zugelassen haben, die unter Missachtung gerichtlicher Entscheidungen faktisch hergestellt wurde (K.B. and Others v. Croatia, no. 36216/13, 14. März 2017). Als der Sozialdienst nach der Entbindung feststellte, dass L.R. sich weigerte, das Kind zu seinem Vater zu bringen, setzte er diese Treffen aus, ohne das vom Gericht angeordnete Mediationsverfahren einzuleiten. Eine Kontrolle der Tätigkeit und der Unterlassungen der sozialen Dienste durch die Gerichte fand nicht statt.
83. Der Gerichtshof stellt fest, dass die nationalen Behörden im vorliegenden Fall angesichts des seit 2014 anhaltenden Widerstands der Mutter des Kindes und der Schwierigkeiten des Beschwerdeführers bei der Ausübung seines Umgangsrechts nicht unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden konnten, um das Recht des Beschwerdeführers auf Umgang und Herstellung einer Beziehung zu seinem Sohn durchzusetzen (vgl. Terna, a. a. O., § 73, Strumia, a. a. O., § 123).
84. In diesem Zusammenhang erinnert der Gerichtshof daran, dass er bereits im Terna-Urteil (a. a. O., Rdnr. 97) festgestellt hat, dass in Italien ein systemisches Problem in Bezug auf Verzögerungen bei der Umsetzung von gerichtlich angeordneten Umgangsrechten besteht.
85. Der Gerichtshof nimmt auch die Verzögerung der Entscheidung des Gerichts von Venedig zur Kenntnis. Er erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass er im Rahmen von Artikel 8 der Konvention die Dauer des Entscheidungsprozesses der inländischen Behörden sowie die Dauer der damit verbundenen Gerichtsverfahren berücksichtigen kann. Es besteht immer die Gefahr, dass eine Verzögerung des Verfahrens in einem solchen Fall zu einer vollendeten Tatsache des strittigen Problems führt. Die wirksame Achtung des Familienlebens erfordert, dass die künftigen Beziehungen zwischen Eltern und Kind allein auf der Grundlage aller relevanten Faktoren und nicht einfach durch den Zeitablauf geregelt werden (siehe W. gegen das Vereinigte Königreich, 8. Juli 1987, §§ 64-65, Serie A Nr. 121, Covezzi und Morselli gegen Italien, Nr. 52763/99, § 136, 9. Mai 2003, das bereits erwähnte Solarino gegen das Vereinigte Königreich, § 39, 9. Februar 2017, und D’Alconzo gegen Italien, Nr. 64297/12, § 64, 23. Februar 2017).
86. Nach Ansicht des Gerichts waren bei der Annahme einer Entscheidung, die die durch Artikel 8 der Konvention garantierten Rechte berührt, größere Sorgfalt und Schnelligkeit erforderlich. Was in dem Verfahren für den Antragsteller auf dem Spiel stand, erforderte eine dringende Behandlung, da der Ablauf der Zeit irreparable Folgen für die Beziehung zwischen dem Kind und seinem Vater, der nicht mit ihm zusammenlebte, hätte haben können. Das Gericht erinnert daran, dass der Abbruch des Kontakts zu einem Kind in einem sehr jungen Alter zu einer zunehmenden Verschlechterung seiner Beziehung zu dem Elternteil führen kann. In diesem Zusammenhang stellt sie fest, dass es trotz der Anträge des Antragstellers, des Sozialdienstes und der Staatsanwaltschaft, die auf eine gefährliche Situation für das Kind hinwiesen, zwei Jahre dauerte, bis das Gericht in Venedig eine Entscheidung traf, die bis heute nicht vollstreckt wurde, ohne dass diese Nichtvollstreckung irgendwelche Folgen für L.R. hatte, trotz der Warnungen des Gerichts und trotz der Tatsache, dass L.R. wegen des Delikts der Entführung eines Minderjährigen verurteilt wurde.
87. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen und ungeachtet des Ermessensspielraums des beklagten Staates in dieser Angelegenheit ist das Gericht der Auffassung, dass die nationalen Behörden keine angemessenen und ausreichenden Anstrengungen unternommen haben, um sicherzustellen, dass das Umgangsrecht des Beschwerdeführers beachtet wird, und dass sie sein Recht auf Achtung seines Familienlebens missachtet haben.
88. Es lag also eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention vor.
ÜBER DIE ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DES ÜBEREINKOMMENS
89. Gemäß Artikel 41 des Übereinkommens:
„Stellt der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention oder der dazugehörigen Protokolle fest und lässt das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Befreiung von den Folgen dieser Verletzung zu, so gewährt der Gerichtshof der verletzten Partei erforderlichenfalls eine gerechte Entschädigung. „
Erlittener Schaden
90. Der Kläger forderte 100.000 Euro (EUR) für den immateriellen Schaden, den er seiner Ansicht nach dadurch erlitten hatte, dass er seit 2014 keine Beziehung zu seinem Sohn aufbauen konnte.
91. Die Regierung bestritt die Behauptungen der Klägerin.
92. Das Gericht ist der Auffassung, dass die Klägerin einen immateriellen Schaden erlitten hat, der nicht allein durch die Feststellung einer Verletzung von Artikel 8 der Konvention behoben werden kann. Sie ist der Ansicht, dass die Unfähigkeit des Klägers, einen sinnvollen Kontakt zu seinem Kind aufrechtzuerhalten, ihm Frustration und Leid verursachte und ihn daran hinderte, über einen Zeitraum von mehreren Jahren eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen. Dementsprechend sprach es der Klägerin unter Berücksichtigung aller ihm vorliegenden Beweise und nach billigem Ermessen, wie in Artikel 41 der Konvention vorgeschrieben, den Betrag von 13.000 Euro zu.
Kosten und Aufwendungen
93. 93 Der Beschwerdeführer machte 39.692,01 EUR für die Kosten und Auslagen geltend, die ihm im Verfahren vor den inländischen Gerichten entstanden sein sollen, und 4.085,54 EUR für die Kosten und Auslagen, die ihm im Verfahren vor dem Gericht entstanden sein sollen.
94. Die Regierung machte geltend, dass dieser Antrag auf Erstattung abgelehnt werden sollte.
95. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Kläger die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit verlangen, als deren Realität, Notwendigkeit und Angemessenheit nachgewiesen ist. Im vorliegenden Fall hält es das Gericht in Anbetracht der in seinem Besitz befindlichen Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angemessen, der Klägerin einen Betrag von 15 000 Euro für sämtliche Kosten zuzüglich eines etwaigen Steuerbetrags auf diesen Betrag zuzusprechen.
Verzugszinsen
96. Der Rechnungshof hält es für angemessen, den Verzugszinssatz auf den Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkte zu stützen.
AUS DIESEN GRÜNDEN HAT DAS GERICHT, EINSTIMMIG
Die Klage wird für zulässig erklärt;
stellt fest, dass eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention vorliegt;
Hält,
a) dass der beklagte Staat innerhalb von drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil gemäß Artikel 44 § 2 des Übereinkommens rechtskräftig wird, die folgenden Beträge an den Kläger zu zahlen hat:
EUR 13.000 (dreizehntausend Euro), zuzüglich eines eventuell darauf entfallenden Steuerbetrages, für einen immateriellen Schaden;
EUR 15.000 (fünfzehntausend Euro), zuzüglich eines eventuell darauf entfallenden Steuerbetrags, für Kosten und Auslagen;
b) Vom Ablauf dieser Frist bis zur Zahlung werden auf diese Beträge einfache Zinsen zu einem Satz erhoben, der der während dieses Zeitraums geltenden Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
Im Übrigen wird die Klage auf Schadensersatz abgewiesen.
Getroffen in französischer Sprache und am 24. Juni 2021 gemäß Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Geschäftsordnung schriftlich mitgeteilt.
Renata Degener Ksenija Turković
Registrar Präsident