Ukraine wegen Eltern-Kind-Entfremdung verurteilt

Nach Moldawien und Italien hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte innerhalb kurzer Zeit bereits die dritte Entscheidung zur elterlichen Entfremdung erlassen und die Ukraine wegen Eltern-Kind-Entfremdung verurteilt (VYKHOVANOK / UKRAINE (Beschwerde Nr. 12962/19)).

Der Entscheidung lag ein Fall zugrunde, bei dem sich die Eltern der gemeinsamen, 2008 geborenen Tochter 2011 trennten und 2013 eine Umgangsregelung getroffen werden musste, da die Mutter den Umgang verhinderte. Nachdem der Vater dem Kind 2014 seine neue Freundin vorstellte, brach der Kontakt ab. In den folgenden 7 Jahren wurde immer wieder versucht, die Umgangsregelung zu vollstrecken, letztlich erfolglos.

Der EGMR stellte fest, dass die Behörden keine ausreichenden Schritte unternommen haben, um der Entfremdung zu begegnen. Die sogenannten „Vollstreckungsmaßnahmen“ bezogen sich vorwiegend auf eine Dokumentation der Vorgänge. Dazu führte der Gerichtshof insbesondere unter RZ 32 aus:

„Das Gericht ist der Auffassung, dass ein derart begrenztes Vorgehen der Gerichtsvollzieher nicht ausreichend war. Es hat nicht den Anschein, dass die Behörden während des Vollstreckungsverfahrens jemals Vorkehrungen für die freiwillige Befolgung des Urteils in Erwägung gezogen haben, z. B. durch die Entwicklung einer umfassenden Vollstreckungsstrategie, einschließlich einer gezielten Unterstützung des Kindes, das offensichtlich Anzeichen einer elterlichen Entfremdung zeigte.“

Es wurde auch darauf hingewiesen, dass zur Sicherung des Kontaktes auch verhältnismäßige Zwangsmaßnahmen eingesetzt werden dürfen, dies aber nicht ersichtlich war. Letztlich wurde (erneut) festgehalten, dass der Ukraine ein entwickelter Rechts- und Verwaltungsrahmen fehle und ungeeignete Mittel zur Umsetzung von Gerichtsurteilen in Bezug auf Kinder immer wieder zu solchen Fällen führten.

Ukraine wegen Eltern-Kind-Entfremdung verurteilt

Mit seiner Entscheidung hat der Gerichtshof unter Anführung vieler weiterer bisher entschiedener Fälle sehr deutlich hervorgehoben, dass er sehr hohe Anforderungen an Staaten stellt, Eltern-Kind-Entfremdung zu verhindern und dieser zügig und mit allen zumutbaren Mitteln zu begegnen.

Es dürfte nur eine Frage der Zeit bleiben, bis eine solche Entscheidung auch zu Deutschen Fällen folgt, da auch hier Eltern-Kind-Entfremdung in schwierigen Fällen nicht entgegengetreten, sondern diese häufig eher aktiv gefördert wird. Deutschland wurde in diesem Zusammenhang bereits mehrfach verurteilt (Kuppinger vs. Deutschland 62198/11; Moog vs. Deutschland 23280/08).

So sehr solche Verurteilungen zu begrüßen sind, so hinterlassen diese doch einen faden Beigeschmack. Jeder dieser Fällen hinterlässt einen entfremdeten Elternteil und ein entfremdetes Kind. Die paar Euros an Entschädigung können den für das Leben entstandenen Schaden nicht ansatzweise aufwiegen und sind sicherlich auch nicht geeignet, die verurteilten Staaten nachdrücklich zur Änderung ihrer Gesetzgebung oder Ausübung der Gesetze zu bewegen.

Ein weiterer Punkt in diesem Fall sollte hervorgehoben werden: der Kontakt brach ab, als der Vater dem Kind 3 Jahre nach der Trennung seine neue Partnerin vorstellte. Es ist häufig zu beobachten, dass mit dem auftreten neuer Partner sich die Dynamik in solch schwierigen Fällen verändert. Es zeigt aber auch, dass es hier vor allem die Befindlichkeiten eines Elternteils sind, die über das Kind ausgelebt werden. So einfach, wie dies zu erkennen ist, so effizient und zügig sollte gegen diesen emotionalen Missbrauch von Kindern durch Eltern vorgegangen werden.

Denn wie im vorliegenden Fall kann nach 7 Jahren nur noch das Versagen staatlicher Organe festgestellt, aber nicht der Schaden beim Kind verhindert werden. Alle Staaten, welche die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet haben, sind daher eigentlich verpflichtet, Kinder vor genau solchen Auswirkungen zu schützen. Nicht nur Italien, Moldawien und die Ukranie beweisen in Europa, dass dies nur ein frommer Wunsch, fern der Wirklichkeit ist. Auch Deutschland verletzt die Kinderrechte fortwährend, indem keine wirksamen Maßnahmen gegen Eltern-Kind-Entfremdung ergriffen werden.

Die Entscheidung wird nachfolgend als deutsche Übersetzung (Autor: Markus Witt) im Volltext wiedergegeben:

FALL VYKHOVANOK / UKRAINE

(Antrag Nr. 12962/19)

URTEIL

STRASBOURG

7. Oktober 2021

Dieses Urteil ist rechtskräftig, kann aber einer redaktionellen Überarbeitung unterzogen werden.

In der Rechtssache Vykhovanok gegen Ukraine,

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Abteilung), als Ausschuss bestehend aus:

 Stéphanie Mourou-Vikström, Präsidentin,

 Jovan Ilievski,

 Arnfinn Bårdsen, Richter,

und Martina Keller, stellvertretende Kanzlerin der Sektion,

gestützt auf:

die Beschwerde (Nr. 12962/19) gegen die Ukraine, die ein ukrainischer Staatsangehöriger, Herr Rostyslav Stepanovych Vykhovanok („die Beschwerdeführerin“), am 23. Februar 2019 gemäß Artikel 34 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hat;

die Entscheidung, die ukrainische Regierung („die Regierung“) von dem Antrag in Kenntnis zu setzen;

die Stellungnahmen der Parteien;

nach Beratung in nichtöffentlicher Sitzung am 16. September 2021,

erlässt das folgende Urteil, das an diesem Tag erlassen wurde:

EINLEITUNG

1.  Die Rechtssache betrifft die Nichtvollstreckung einer Umgangsregelung, die angeblich gegen Artikel 8 des Übereinkommens verstößt.

DER SACHVERHALT

2.  Der Beschwerdeführer wurde 1974 geboren und lebt in Lviv.

3.  Die Regierung wurde durch ihren Bevollmächtigten, Herrn I. Lishchyna, vertreten.

4.  Der Sachverhalt, wie er von den Parteien vorgetragen wurde, läßt sich wie folgt zusammenfassen

5.  Im Jahr 2007 zog der Beschwerdeführer mit I. in die Stadt Lviv. Am 19. Juli 2008 wurde die gemeinsame Tochter D. geboren. Im Jahr 2011 trennten sich der Beschwerdeführer und I.. I., die die Mutter des Kindes ist, zog mit dem Kind in die Stadt Vynnyky, Region Lviv, um.

6.  Der Beschwerdeführer leitete ein zivilrechtliches Verfahren ein und behauptete, I. habe ihm den Umgang mit dem Kind verwehrt. Der Beschwerdeführer beantragte, dass das Gericht Regelungen für seinen regelmäßigen Umgang mit dem Kind treffen solle.

7.  Am 20. Februar 2013 stellte das Amtsgericht Lwiw fest, dass I. den Beschwerdeführer am Umgang mit dem Kind gehindert habe. Das Gericht entschied, dass dem Beschwerdeführer (i) wöchentliche Treffen mit seiner Tochter von 18.00 Uhr am Freitag bis 21.00 Uhr am Samstag in der Wohnung des Beschwerdeführers in Lviv, (ii) Spaziergänge im Freien mit seiner Tochter von 18.00 Uhr bis 21.00 Uhr jeden Mittwoch und (iii) fünfzehntägige Ferien mit seiner Tochter jeden Sommer und Winter gewährt werden sollten. Das Urteil wurde von den Parteien nicht angefochten und wurde rechtskräftig.

8.  Der Beschwerdeführer traf seine Tochter gemäß dem Umgangsplan regelmäßig bis zum Sommer 2014, als er seine Tochter seiner neuen Freundin vorstellte, woraufhin sie Freunde wurden. Als I. von dieser Freundschaft erfahren habe, habe der Beschwerdeführer Schwierigkeiten gehabt, seine Tochter wieder zu sehen, so die Beschwerdeführerin.

9.  Am 14. August 2014 beantragte die Beschwerdeführerin, dass der staatliche Gerichtsvollzieherdienst (im Folgenden: Gerichtsvollzieher) für die Durchsetzung der Umgangsregelung sorgt. Am 29. August 2014 leiteten die Gerichtsvollzieher ein Vollstreckungsverfahren ein und unterstützten die Beschwerdeführerin bei zwei Treffen mit dem Kind. Sie stellten fest, dass I. den Beschwerdeführer nicht daran gehindert hatte, das Kind zu sehen, und dass das Kind bei einem dieser Treffen nicht bei dem Beschwerdeführer bleiben wollte. Am 14. Oktober 2014 beendeten die Gerichtsvollzieher das Vollstreckungsverfahren.

10.  Der Beschwerdeführer versuchte, die Entscheidung der Gerichtsvollzieher vom 14. Oktober 2014 vor Gericht anzufechten. Seine Beschwerde wurde jedoch als verspätet zurückgewiesen.

11.  Am 28. November 2016 nahmen die Gerichtsvollzieher auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin hin das Vollstreckungsverfahren wieder auf. Am 17. Februar 2017 stellten die Gerichtsvollzieher fest, dass das Kind während der Treffen nicht bei der Beschwerdeführerin bleiben wollte. Am 17. Mai 2017 beendeten sie das Vollstreckungsverfahren. Der Beschwerdeführer war damit nicht einverstanden und focht diese Entscheidung gerichtlich an (siehe unten Randnummer 13).

12.  Am 27. März 2019 nahmen die Gerichtsvollzieher das Vollstreckungsverfahren auf Antrag des Beschwerdeführers gemäß dem geänderten § 64-1 des Vollstreckungsgesetzes wieder auf (siehe unten Randnr. 20).

13.  Juli 2019 stellte das Amtsgericht Lwiw fest, dass die Entscheidung der Gerichtsvollzieher vom 17. Mai 2017, das Vollstreckungsverfahren einzustellen, unbegründet gewesen sei, da die Gerichtsvollzieher nicht alle Maßnahmen ergriffen hätten, um die Umgangsregelung für das Kind durchzusetzen. Am 23. Januar 2020 bestätigte das regionale Berufungsgericht Lwiw diese Entscheidung.

14.  August 2019 stellte das Amtsgericht Lwiw nach Prüfung der Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Gerichtsvollzieher fest, dass die Gerichtsvollzieher während des Vollstreckungsverfahrens im Jahr 2016 mehrere mangelhafte Berichte erstellt hätten, ohne die Rechte des Beschwerdeführers angemessen zu berücksichtigen.

15.  Juli 2019 beschlossen die Gerichtsvollzieher, gegen I. ein Bußgeld zu verhängen und ihr Vermögen zu pfänden, weil sie den Umgangsplan nicht einhielt. Am 4. Oktober 2019 wurden diese Entscheidungen gerichtlich für ungültig erklärt.

16.  Am 5. August 2019 beschlossen die Gerichtsvollzieher, gegen I. ein Bußgeld zu verhängen, weil sie sich nicht an den Umgangsplan gehalten hatte.

17.  Am 19. Dezember 2019 lehnte das Amtsgericht Lemberg den Antrag von I. ab, in dem sie beantragt hatte, den Vollstreckungsbescheid, der in Bezug auf den Umgangsplan des Beschwerdeführers erlassen worden war, nicht zu vollstrecken. Das Gericht stellte fest, dass die Tatsache, dass das Kind seinen Vater nicht sehen wollte, nicht ausreichen konnte, um die Umgangsregelung nicht zu vollstrecken. Es habe keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass diese Umgangsregelung der natürlichen Entwicklung des Kindes zuwidergelaufen sei.

18.  Das Vollstreckungsverfahren ist seit dem 12. März 2021 anhängig.

EINSCHLÄGIGER RECHTLICHER RAHMEN

19.  Einschlägige Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts finden sich in Vyshnyakov v. Ukraine (Nr. 25612/12, § 28, 24. Juli 2018) und Bondar v. Ukraine ([Ausschuss] Nr. 7097/18, §§ 17 und 18, 17. Dezember 2019).

20.  Das Vollstreckungsgesetz vom 2. Juni 2016 mit den am 3. Juli 2018 eingeführten Änderungen sieht vor, dass ein Beschwerdeführer oder eine Beschwerdeführerin, wenn er oder sie nach Beendigung des Vollstreckungsverfahrens von der anderen Partei daran gehindert wird, das Kind zu sehen, bei den Gerichtsvollziehern einen Antrag auf Wiederaufnahme des Vollstreckungsverfahrens stellen kann (§ 64-1 § 6).

DAS RECHT

I. ANGEBLICHE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

21.  Der Beschwerdeführer rügte gemäß Artikel 6, 8 und 13 der Konvention, dass die mit Gerichtsbeschluss vom 20. Februar 2013 festgelegte Umgangsregelung von den Behörden nicht wirksam umgesetzt worden sei.

22.  Der Gerichtshof, der den Sachverhalt rechtlich zu würdigen weiß (vgl. Radomilja u. a./Kroatien [GC], Nr. 37685/10 und 22768/12, § 114, 20. März 2018), prüft die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt des Artikels 8 der Konvention. Artikel 8 lautet wie folgt:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

2. (2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

Zulässigkeit

23.  Die Regierung machte geltend, dass der Beschwerdeführer sein Recht auf Anrufung des Gerichts missbraucht habe, weil er nur seine eigenen Interessen verfolgt habe, ohne die seines Kindes gebührend zu berücksichtigen, und weil er nicht ein vollständiges Bild aller Ereignisse dargestellt habe, offensichtlich um das Gericht in die Irre zu führen.

24.  Die Regierung trug weiter vor, dass der Antrag offensichtlich unbegründet sei, da der Beschwerdeführer Zugang zu wirksamen Verfahren gehabt habe und die nationalen Behörden alle Maßnahmen ergriffen hätten, um das Recht des Beschwerdeführers auf Kontakt mit seiner Tochter zu gewährleisten.

25.  Der Beschwerdeführer stimmte dem nicht zu.

26.  Das Gericht findet keinen Hinweis auf einen Missbrauch des Rechts auf Individualbeschwerde im Sinne von Artikel 35 § 3 (a) der Konvention. Darüber hinaus ist diese Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Artikel 35 der Konvention aufgeführten Grund unzulässig. Sie ist daher für zulässig zu erklären.

Begründung

27.  Der Beschwerdeführer hielt seine Beschwerde aufrecht.

28.  Die Regierung trug vor, dass die Gerichtsvollzieher alle möglichen Maßnahmen ergriffen hätten, um die Gerichtsentscheidung vom 20. Februar 2013 durchzusetzen.

29.  Der Gerichtshof wiederholt, dass der gegenseitige Genuss der Gesellschaft von Eltern und Kindern ein grundlegendes Element des „Familienlebens“ im Sinne von Artikel 8 der Konvention darstellt (siehe, neben anderen Behörden, K. und T. gegen Finnland [GC], Nr. 25702/94, § 151, ECHR 2001-VII). Die allgemeinen Grundsätze zu den positiven Verpflichtungen des Staates in Bezug auf den Schutz der Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern sind in Vyshnyakov v. Ukraine (Nr. 25612/12, §§ 35-37, 24. Juli 2018, mit weiteren Verweisen) dargelegt.

30.  In Anbetracht der Tatsache, dass die positive Verpflichtung in diesem Bereich keine Ergebnis-, sondern eine Mittelverpflichtung ist (siehe Vyshnyakov, a. a. O., Rn. 36), muss der Gerichtshof prüfen, ob die inländischen Behörden ausreichende Schritte unternommen haben, um die gerichtliche Entscheidung vom 20. Februar 2013 über die Regelung des Umgangs mit den Kindern durchzusetzen.

31.  Das Gericht stellt fest, dass sich die Intervention der Gerichtsvollzieher während des Vollstreckungsverfahrens im Wesentlichen darauf beschränkte, über erfolglose Treffen und die Weigerung des Kindes, den Beschwerdeführer zu sehen, zu berichten. Auf die Beschwerden des Beschwerdeführers hin rügten die inländischen Gerichte die Art und Weise, in der das Vollstreckungsverfahren von den Gerichtsvollziehern durchgeführt wurde (siehe oben, Randnrn. 13 und 14).

32.  Das Gericht ist der Auffassung, dass ein derart begrenztes Vorgehen der Gerichtsvollzieher nicht ausreichend war. Es hat nicht den Anschein, dass die Behörden während des Vollstreckungsverfahrens jemals Vorkehrungen für die freiwillige Befolgung des Urteils in Erwägung gezogen haben, z. B. durch die Entwicklung einer umfassenden Vollstreckungsstrategie, einschließlich einer gezielten Unterstützung des Kindes, das offensichtlich Anzeichen einer elterlichen Entfremdung zeigte (siehe hierzu Gen u. a./Ukraine ([Ausschuss], Nr. 41596/19 und 42767/19, § 66, 10. Juni 2021). Es bleibt unklar, inwieweit die Kinderbetreuungs- und Familiendienste in diesem Zusammenhang hätten einbezogen werden können und ob eine Familienmediation hätte in Anspruch genommen werden können (siehe Vyshnyakov, a.a.O., § 43). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass das Recht eines Kindes, seine eigene Meinung zu äußern, nicht so ausgelegt werden sollte, dass es Kindern tatsächlich ein bedingungsloses Vetorecht einräumt, ohne dass andere Faktoren berücksichtigt werden und eine Prüfung zur Bestimmung des Kindeswohls durchgeführt wird; darüber hinaus gebieten diese Interessen normalerweise, dass die Bindungen des Kindes zu seiner Familie aufrechterhalten werden müssen, außer in Fällen, in denen dies seiner Gesundheit und Entwicklung schaden würde (siehe A.V. gegen Slowenien, Nr. 878/13, § 72, 9. April 2019, mit weiteren Hinweisen). In der Tat hielt es das inländische Gericht im Dezember 2019 trotz des Widerwillens des Kindes, seinen Vater zu sehen, für erforderlich, die Umgangsregelung zwischen dem Kind und der Beschwerdeführerin umzusetzen (siehe Rdnr. 17 oben).

33.  Abgesehen davon kann, auch wenn eine freiwillige Zustimmung vorzuziehen ist, die festgefahrene Haltung, die die Eltern in solchen Fällen häufig einnehmen, eine solche Zustimmung erschweren, so dass in bestimmten Fällen auf verhältnismäßige Zwangsmaßnahmen zurückgegriffen werden muss (siehe Vyshnyakov, oben, § 43, mit weiteren Hinweisen). Es deutet jedoch nichts darauf hin, dass solche Zwangsmaßnahmen von den Behörden in ausreichender und rechtzeitiger Weise ergriffen wurden (vgl. Kuppinger gegen Deutschland, Nr. 62198/11, § 105, 15. Januar 2015).

34.  Der Gerichtshof hat in Verfahren gegen die Ukraine wiederholt festgestellt, dass die ungeeigneten Mittel zur Umsetzung von Gerichtsurteilen in Bezug auf die Kinder auf das Fehlen eines entwickelten Rechts- und Verwaltungsrahmens zurückzuführen sind, der freiwillige Vereinbarungen zur Einhaltung der Vorschriften unter Einbeziehung von Familien- und Kinderbetreuungseinrichtungen erleichtern könnte. Darüber hinaus sah der verfügbare Rahmen keine geeigneten und spezifischen Maßnahmen vor, um – vorbehaltlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – die zwangsweise Einhaltung dieser Vereinbarungen zu gewährleisten (siehe Vyshnyakov, a. a. O., § 46; Shvets v. Ukraine [Ausschuss], Nr. 22208/17, § 38, 23. Juli 2019; Bondar v. Ukraine [Ausschuss], Nr. 7097/18, § 36, 17. Dezember 2019; und Gen und andere, a. a. O., § 68). Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Feststellungen auch für den vorliegenden Fall zutreffen.

35.  In Anbetracht dieser Umstände stellt der Gerichtshof fest, dass eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention vorliegt.

II. Anwendung von Artikel 41 der Konvention

36.  Artikel 41 der Konvention bestimmt:

„Stellt der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention oder der Protokolle dazu fest und lässt das innerstaatliche Recht der betreffenden Hohen Vertragspartei nur eine teilweise Wiedergutmachung zu, so gewährt der Gerichtshof der verletzten Partei erforderlichenfalls eine gerechte Entschädigung.“

37.  Der Beschwerdeführer forderte 48.000 Euro (EUR) für den immateriellen Schaden.

38.  Die Regierung behauptete, dass die Forderung des Beschwerdeführers unbegründet sei.

39.  Das Gericht ist der Ansicht, dass der Beschwerdeführer aufgrund der von ihm festgestellten Verletzung Kummer und Ängste erlitten haben muss. Nach dem Grundsatz der Billigkeit, wie in Artikel 41 der Konvention vorgesehen, spricht das Gericht dem Beschwerdeführer 4.500 Euro als immateriellen Schaden zu.

40.  Der Beschwerdeführer hat außerdem 1.230 Euro an Kosten und Auslagen geltend gemacht.

41.  Die Regierung behauptete, dass die Klage unbegründet sei.

42.  In Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und seiner Rechtsprechung hält es das Gericht für angemessen, dem Beschwerdeführer einen Betrag von 1.000 Euro für Kosten und Auslagen zuzusprechen, zuzüglich einer eventuell anfallenden Steuer.

43.  Das Gericht hält es für angemessen, dass der Verzugszinssatz auf dem Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank beruht, zu dem drei Prozentpunkte hinzukommen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DAS GERICHT EINSTIMMIG,

1.    Die Klage wird für zulässig erklärt;

2.    Er stellt fest, dass eine Verletzung von Artikel 8 des Übereinkommens vorliegt;

3.    stellt fest:

(a) dass der beklagte Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten die folgenden Beträge zu zahlen hat, die zu dem am Tag des Vergleichs geltenden Kurs in die Währung des beklagten Staates umzurechnen sind:

(i) 4.500 (vierhundertfünfundzwanzigtausend) Euro, zuzüglich einer eventuell anfallenden Steuer, für den immateriellen Schaden;

(ii) 1.000 EUR (eintausend Euro), zuzüglich einer eventuell anfallenden Steuer, für die Kosten und Auslagen des Beschwerdeführers;

(b) dass ab dem Ablauf der oben genannten drei Monate bis zur Begleichung einfache Zinsen auf die vorgenannten Beträge zu einem Satz zu zahlen sind, der dem Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank während des Verzugszeitraums zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

4.    Im Übrigen wird der Antrag der Beschwerdeführerin auf gerechte Entschädigung abgewiesen.

Verfasst in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 7. Oktober 2021, gemäß Artikel 77 §§ 2 und 3 der Gerichtsordnung.

Martina Keller                                 Stéphanie Mourou-Vikström

Stellvertretende Kanzlerin          Präsidentin

Beitrag teilen in:

Kommentare sind geschlossen.