Verstehen was passiert
Wohl jeder kennt eine oder mehrere Familien, die sich getrennt haben. Mal mehr, mal weniger friedlich, aber nach einiger Zeit lief es dann mehr oder weniger in „vernünftigen“ Bahnen. Man liebte sich nicht mehr, aber hatte ein Mit- oder Nebeneinander gefunden. Und sei es nur der Kinder wegen. Nur kann man verstehen, was passiert?
- Warum läuft das bei uns so völlig anders?
- Weshalb entgleist es immer wieder?
- Was hat die Trennung mit mir gemacht und wie stehe ich zum Ex-Partner / Ex-Partnerin?
All dies sind wichtige Fragen, die man stellen sollte, um die Situation für sich selbst einzuordnen.
Emotionen prägen uns
Wichtig dabei: ehrlich mit sich selbst sein. „Ich habe die Trennung ja schon überwunden“ hört man häufig, gefolgt von langen Ausführungen, wie der Ex-Partner einen doch behandelt habe und wie gekränkt man sei.
Es ist keine Schande, wenn man sich eingesteht, dass die Trennungen und Verletzungen bei einem selbst noch Auswirkungen zeigen. Wenn man sich das eingesteht ist es vielmehr eine Chance, damit umzugehen. Unterdrückte Emotionen schwelen in uns weiter. Wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen und ihnen ihren Platz lassen, dann ist dies ein wichtiger Schritt zur Heilung der Wunden. „Emotionsregulation“ ist so ein schöner Fachbegriff, mit dem Fachleute gerne beschreiben, weshalb Menschen nicht logisch, sondern oftmals widersinnig und irrational handeln. Häufig sind dabei Wut, Hass, Angst mit im Spiel – starke Emotionen, die unser oder das Handeln unseres Gegenübers beeinflussen können.
Wenn der nächste Anwaltsbrief kommt, eine Ladung zum Gericht oder eine unpassende Email des anderen Elternteils – auch dies ruft Emotionen hervor, genau wie die Sorge darum, wie es weitergeht oder was ein solcher Streit wohl mit dem Kind macht. Lassen Sie das zu, es ist auch keine Schande, mal zu schreien oder zu weinen – im Gegenteil, solche Emotionen zuzulassen kann helfen, danach „gereinigt“ und mit klarerem Kopf voran zu schreiten. Sie sollten nur schauen, in welchen Situationen Sie den Emotionen freien Lauf lassen.
Gegenüber Ihrem Kind, bei Gericht oder bei Ämtern ist es meist nicht die richtige Situation, alleine oder auch im Rahmen der Familie oder bei guten Freuden passt es meist deutlich besser.
Die Perspektive wechseln
„Setz Du Dich mal auf meinen Stuhl. Von hier sieht die Welt ganz anders aus!“ Da ist durchaus was dran. Wer sich in der Stadt mal über die dreisten LKW-Fahrer aufgeregt hat kommt schnell zu einer anderen Einschätzung, wenn er selbst mal „auf dem Bock“ gesessen und versucht hat, 30 Tonnen unfallfrei durch die enge Innenstadt zu bugsieren.
Nicht anders ist es in der Familie. „Das bisschen Haushalt macht sich von allein, sagt mein Mann“ ist so ein Klassiker, in den Männer nicht mehr freudig einstimmen, wenn sie selbst einmal eine Zeit lang die Regie zuhause allein übernehmen mussten, am besten kombiniert mit Kinderversorgung und Bespaßung. Auf der anderen Seite ist es für Frauen ungewohnt, wenn sie auf einmal Last der finanziellen Versorgung der Familie tragen müssen und neben Vollzeitjob auch noch zuhause mit anpacken müssen bei Tätigkeiten, die sie sonst gerne den Männern überlassen haben.
Nur was bringen uns diese Beispiele in hochstrittigen Trennungen? Sie bieten die Chance, durch einen Perspektivwechsel zu verstehen, in welcher Situation der jeweils andere steckt. Zu verstehen, warum er oder sie so reagiert. Verständnis und Akzeptanz kann ein Schlüssel zur Deeskalation und gegenseitigem Verständnis sein. Vor allem, wenn dies von beiden Seiten kommt.
Er vermisst seine Kinder, ist enttäuscht, dass der gemeinsame Lebensweg nicht fortgesetzt werden konnte, er betrogen wurde oder einen wesentlichen Teil seiner Existenz verliert, sich Sorgen um die Zukunft macht?
Oder sie, die sich sorgt, als Mutter ersetzt zu werden, mit der Verantwortung überfordert zu sein oder ungewollt aufgrund seiner Entscheidung in einen völlig anderen Lebensweg gedrängt zu werden?
Die Beispiele sind völlig geschlechtsneutral und passen jeweils auf beide. Sie könnten unendlich fortgesetzt werden.
Daher: auch wenn es schwerfällt, versuchen Sie sich in die Situation des anderen Elternteils hinein zu versetzen. Fragen sie vielleicht auch einen guten Freund oder guten Freundin, wie er oder sie dies sehen würde. Fragen Sie sich (ehrlich), wie würde mir es gehen, wenn ich in der Situation des anderen Elternteils wäre.
Dies ist übrigens auch eine gute Übung für gemeinsame Gespräche, in denen es um die Lösung von Konflikten oder Problemen geht. Wenn Sie einen Vorschlag machen, dann sollten Sie sich die Frage stellen, ob sie selbst den Vorschlag akzeptieren würden, wenn er ihnen unterbreitet werden würde. Können Sie diese Frage ehrlich und guten Gewissens mit „ja“ beantworten, unterbreiten Sie den Vorschlag. Wenn nein, dann denken Sie besser noch einmal darüber nach. Denn warum sollte der andere Elternteil einen Vorschlag akzeptieren, den Sie selbst nicht akzeptieren würden?
Das unverständliche verstehen lernen
Hochstrittige Trennungen sind häufig davon gekennzeichnet, dass mindestens ein Partner unlogisch oder außerhalb jeglicher Konventionen handelt und dabei manchmal auch eigene Nachteile und Schädigungen in Kauf nimmt.
Häufig stellt man sich dann die Frage „aber warum macht er / sie das, dass ergibt doch keinen Sinn!“. Über die Suche nach einer Antwort, welche das irrationale Handeln in rationale Denkmuster einordnen soll, kommen Ex-Partner nicht selten an den Rand der Verzweiflung und des Wahnsinns, da sie es einfach nicht verstehen können.
Hier gibt es zwei Möglichkeiten: entweder, man selbst hat Einschränkungen in der Wahrnehmung. Auch hier hilft es wieder, den eigenen Kompass im Gespräch mit Freunden, Bekannten oder z.B. auch Familienberatungsstellen einzunorden. Finden andere Menschen das Vorgehen des anderen Elternteils auch so unverständlich und unlogisch?
Wenn ja, dann kommt vielleicht Möglichkeit zwei ins Spiel: der andere Elternteil handelt tatsächlich außerhalb dessen, was unser Wertesystem als „normal“, „rational“ oder „logisch“ bezeichnet. Auch wenn wir selbst dies nicht nachvollziehen können und niemals so handeln würden ist es wichtig zu verstehen, dass unser Wertesystem so nicht für den anderen Elternteil gilt.
Dies kann dann eine Antwort auf die Frage nach dem „warum“ sein und uns helfen, die für uns unlogischen Handlungen des anderen Elternteils einzuordnen. Dies muss nicht bedeuten, diese Handlungen zu akzeptieren oder für gut zu befinden. Es hilft uns aber, damit umzugehen und die bohrende Frage nach dem „warum“ zu beantworten.
Die psychologische / psychiatrische Komponente
Provokant gesagt, dürften sehr viele Elternteile nach einer strittigen Trennung vorübergehend nur eingeschränkt erziehungsfähig sein. Die Emotionen brausen auf, die Handlungen entziehen sich wohlüberlegtem, besonnenen Handeln und die Bedürfnisse der Kinder geraten aus dem Blick.
Genügend Stoff für Therapeuten, Psychiater und Psychologen, sogenannte psychische „Akzentuierungen“ (ein freundlicher Begriff für Ansätze oder Vermutungen von psychischen Störungen) zu finden. Entscheidend ist hierbei die zeitliche Komponente. „Der oder die ist ja verrückt oder krank im Kopf“ ist im Eifer des Gefechts schnell mal gesagt und einzelne Verhaltensweisen könnten eine solche Vermutung auch durchaus bestätigen. Die Frage dabei ist aber, ob ein solches Verhalten lediglich aus der akuten, belastenden Situation heraus resultiert, oder ob es ein dauerhaftes Verhalten ist.
Ist das Verhalten nur den aktuellen Umständen geschuldet, dann lässt sich durch Zeit, Beratung und unter Umständen auch familientherapeutische Arbeit, in absehbarer Zeit eine Verbesserung der Situation erreichen.
Ist dies nicht der Fall, dann muss nach einer gewissen Zeit ohne substantielle Verbesserung der Situation ernsthaft in Erwägung gezogen werden, ob tatsächlich eine psychische Störung vorliegen könnte. Depressionen, Borderline, Narzissmus, Angststörungen, antisoziale, schizophrene oder paranoide Persönlichkeitsstörungen sind in hochstrittigen Fällen häufig anzutreffende Störungsbilder. Es kann daher Sinn machen, sich über die Charakteristiken und Hintergründe solcher Störungsbilder zu informieren. Viele Betroffene von hochstrittigen Trennungen haben in Selbsthilfeforen oder Veröffentlichungen nahezu ihre eigenen Geschichten in vielfacher Ausprägung wiedererkannt und so eine Möglichkeit gefunden, dass bisher unverständliche zu verstehen und besser damit umgehen zu können.
Wichtig: selbst wenn der begründete Verdacht einer psychischen Störung besteht – eine Diagnose kann nur ein fachkundiger Arzt nach ausgiebiger Diagnostik erstellen. Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Störungsbildern sind häufig fließend und teilweise auch Anteile mehrerer Störungen vorhanden. Ob und wann sich jemand diagnostizieren lässt, ist einzig und allein dessen Entscheidung. Diagnoseforderungen von Ex-Partnern sind daher wenig hilfreich.
Das Wissen um psychische Störungsbilder kann daher ein Aspekt sein, dass Verhalten des anderen Partners selbst zu verstehen. Es sollte aber davon abgesehen werden, eine solche „Selbstdiagnose“ als Erklärung sämtlichen Verhaltens des anderen Elternteils zu sehen, denn dies wäre zu kurz gedacht.
Daher sollte jedes Verhalten, auch das eigene, nicht anhand möglicher Diagnosen, sondern anhand des beobachteten Verhaltens selbst beurteilt werden.