Zuschauen, bis das Kind kaputt ist

Zu den schwer zu ertragenden Fällen gehörten für mich immer diejenigen, in denen frühzeitig absehbar war, dass die beteiligten Kinder schweren Schaden nehmen werden. Genau dieser sollte von ihnen abgewandt werden. Das staatliche Wächteramt ist dazu mit zwei voneinander unabhängigen Institutionen ausgestattet. Dem Jugendamt und dem Familiengericht. Viel zu oft bekommt man den Eindruck, dort würde nach dem Motto „Zuschauen, bis das Kind kaputt ist“ gehandelt.

Auch wenn es im Ergebnis leider zu häufig tatsächlich so ist, so ist die Motivationslage dahinter doch meist eine andere. Auf das Wohl des Kindes ausgerichtete, wie ich in vielen Gesprächen immer wieder heraushören konnte. Daher werfen wir mal einen Blick auf die Frage, warum der Wunsch, Kinder zu schützen in hochstrittigen Fällen so häufig dazu führt, dass Fachkräfte so lange zuschauen, bis das Kind kaputt ist.

Zuschauen, bis das Kind kaputt ist
Zuschauen, bis das Kind kaputt ist? Wie könnte es anders gehen?

Die Hoffnung

Stark ausgeprägt scheint die Hoffnung zu sein, dass beide Eltern doch zur Vernunft kommen würden. Es gehe um das Wohl der Kinder. Erkläre man den Eltern, dass ihr Verhalten den Kindern schade, dann würden sie ihr Verhalten bestimmt auch ändern.

Das Problem dabei: in hochstrittigen Fällen hat mindestens ein Elternteil das Kindeswohl nicht im Blick. Das Kind ist Werkzeug und Waffe. Mögliche Schädigungen werden als unvermeidbarer Kollateralschaden gesehen. Ein Schaden, für den – selbstverständlich – ausschließlich der andere Elternteil Verantwortung trägt.

Hoffnung hat nichts mit Kinderschutz oder der Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrages zu tun. Dieser muss sich an den Fakten und objektiven Umständen orientieren. Verklärte Hoffnungs-Fantasien müssen hinter einem aktiven und wirkungsvollen Kinderschutz zurückstehen.

Der Wunsch nach einer „guten Lösung“

Dazu gehört auch, die Hoffnung auf eine „gute“ Lösung aufzugeben. Eine gute Lösung lässt sich nur gemeinsam mit beiden Eltern finden. Beide müssen ihre eigenen Befindlichkeiten zurückstellen und ihr Handeln auf die Bedürfnisse des Kindes ausrichten.

Solche Eltern finden sich in der Regel aber weder vor den Familiengericht noch in hochstrittigen Fällen. Dort geht es nicht mehr um eine gute Lösung. Es geht darum, die am wenigsten schlechte Lösung zu finden, mit den Ressourcen, die jeder Elternteil tatsächlich bereit ist, zur Verfügung zu stellen (unabhängig von der Fähigkeit).

Hinwirken auf Einvernehmen

Der Gesetzgeber hat in §156 FamFG gefordert, dass Familiengerichte auf Einvernehmen der Eltern hinwirken sollen. Jugendämter sollen gem. §17 SGB VIII Eltern bei der Entwicklung eines einvernehmlichen Konzeptes zur Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung unterstützen.

Dieses hinwirken auf Einvernehmen geht teilweise so weit, dass Gerichte vor nahezu jeder Entscheidung zurückschrecken. Und während man noch auf das Einvernehmen der Eltern hofft und ihnen Angebote macht, geht parallel das Kind kaputt. Während der gesetzgeberische Auftrag des Hinwirkens auf Einvernehmen also sehr ernst genommen wird, wurde der Schutzauftrag für das Kind ignoriert oder in seiner Priorität zurückgestellt. Hier sollte die Prioritätensetzung deutlich hinterfragt werden.

Im Zuge der Evaluierung der FamFG-Reform im Auftrage des Bundesjustizministeriums wurde unter anderem die Frage gestellt, inwiefern auf Einvernehmen ausgerichtete Instrumente für hochstrittige Verfahren geeignet sind. Über alle Berufsgruppen (Familienrichter 1. Und 2. Instanz, Verfahrensbeistände, Rechtsanwälte, Jugendämter) verneinten dies rund ¾ der befragten. Die Autoren der Evaluation zogen daher 2018 das Fazit (S. 305):

„Für hochstrittige Verfahren sind den Erfahrungen der meisten Praktiker zufolge die Möglichkeiten des § 156 FamFG nicht (unbedingt) geeignet (rund 67 Prozent der Befragten halten die auf Einvernehmen ausgerichteten Instrumente im Kindschaftsverfahren in diesen Fällen für (eher) ungeeignet). In diesem Zusammenhang sei auch die in der Befragung von einigen geäußerte Befürchtung erwähnt, dass die einvernehmliche Streitbeilegung im Einzelfall ein zu großes Gewicht erfahre. Wo die Bemühung um Einvernehmen aussichtslos ist, dürfen die Beteiligten von der Justiz eine klare Entscheidung erwarten“.

Kinderschutz geht vor Einvernehmen

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Auf Einvernehmen soll hingewirkt werden, wenn es dafür eine reale Chance gibt UND die beteiligten Kinder von den Differenzen der Eltern nicht belastet sind.

Eine Belastung oder vorhersehbare Schädigung der Kinder muss ein Hinwirken auf Einvernehmen in den Hintergrund und den Kinderschutz und die Intervention in den Vordergrund treten lassen.

Kinderschutz vor Einvernehmen

Mangelnde Erfahrung

Hohe Fluktuation und Überlastung in der Jugendhilfe und Familienrichter, die keine fundierte Ausbildung im Familienrecht und innerfamiliären Dynamiken haben sind keine guten Voraussetzungen für eine wirksame Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes. Die Defizite sind hinlänglich bekannt. Hier müsste vor allem die Politik für entsprechende Rahmenbedingungen sorgen, um die notwendige Qualität auch zu ermöglichen. Allein der Wille dazu scheint bisher zu fehlen. Dies ist aber kein Grund, im Rahmen der aktuellen Möglichkeiten trotzdem sein möglichstes zu tun. Denn viele Probleme und auch hochstrittige Fälle sind hausgemacht. Sie sind die traurige Folgen falschen Vorgehens und der immer wieder zu beobachtenden Kapitulation der Institutionen.

Wer weiß, wie es besser gehen könnte?

Hinzu kommt, dass schlicht die Erfahrung fehlt, wie hochstrittige Fälle wirkungsvoll geregelt werden können. Internationale Best-Practice-Ansätze finden kaum ihren Weg nach Deutschland. Es werden immer wieder nicht funktionierende, verfehlte Lösungsansätze versucht. Bei der Frage, wie es anders gehen könnte, haben viele Fachkräfte nur Fragezeichen, wie ich in Gesprächen und auch den Praxis-Workshops immer wieder feststelle.

Alternative Vorgehensweisen sind meist unbekannt. Ein Austausch über Best-Practice-Ansätze auch über das eigene Amt oder den eigenen Gerichtsbezirk hinaus findet kaum statt. Und tatsächlich „hochstrittige“ Fälle hat der einzelne Mitarbeiter nur sehr selten.

Hochstrittige Fälle, die für mich normal und Alltag sind und mit denen ich und einige wenige andere Experten regelmäßig konfrontiert sind. Fälle, die sich mit der richtigen Intervention häufig sehr einfach so entscheiden lassen, dass die Kinder weniger belastet werden als bisher. Es wichtig, darüber zu sprechen, weshalb bisherige Lösungsversuche nicht funktioniert haben und welche Fehler gemacht wurden.

Mangelnde Fehlerkultur

Leider hat man immer wieder den Eindruck, dass weder an Familiengerichten noch in Jugendämtern jemals Fehler gemacht wurden. Zahlreiche Skandale der letzten Jahre, bei denen viele Kinder zu Schaden kamen und dies teilweise mit ihrem Leben bezahlen mussten, hatten vor allem eine Gemeinsamkeit.

Sowohl Jugendamt als auch Familiengericht waren davon überzeugt, keine Fehler gemacht zu haben. Und wer nichts falsch macht, muss natürlich auch an seinem Vorgehen nichts ändern. Die genannten Berufsgruppen sind damit nicht allein, ein solches Verhalten findet sich leider weit verbreitet. Kulturell ist der Fehler bei uns ein Makel und offenbart die eigene Mangelhaftigkeit. Dies will man natürlich vermeiden – und leugnet daher eigene Fehler.

Plädoyer für eine positive Fehlerkultur

Kindern versuchen wir zu erklären, „aus Fehlern lernt man“. Als Erwachsene leben wir dies nur selten vor. Daher möchte ich auch für den Bereich der hochstrittigen Trennungen für eine positive Fehlerkultur werben, wie sie in anderen Kulturkreisen schon lange existiert.

Ein Fehler ist die Chance, etwas zu lernen. Er bietet die Möglichkeit, zukünftig bessere Entscheidungen zu treffen. Daher sollten wir jedem dankbar sein, der einen Fehler eingesteht. Beispielsweise dann, wenn eine praktizierte Lösung in einem hochstrittigen Fall nicht zum gewünschten Ergebnis und zu einer Schädigung der beteiligten Kinder geführt hat.

Mit der Frage „was hätte man besser machen können“ ist der Weg zur Weiterentwicklung und Verbesserung eröffnet. Und so haben auch andere Kollegen die Chance, von den Erfahrungen zu profitieren.

Eigenverantwortung übernehmen

Haben Sie schon einmal über Jahre zugeschaut, bis Kinder dann kaputt waren? Delegieren sie die Verantwortung bitte nicht auf die Eltern. Deren Defizite waren meist bekannt und die Schädigung durch das elterliche Verhalten absehbar.

Stellen sie bitte die Frage, was hätten sie in Ausübung ihres staatlichen Wächteramtes (oder aus ihrer Position heraus) besser machen können? Wir hätten sie die Kinder besser schützen und besser entlasten können? Wie hätten sie aus der Position des Beobachters in die Position des aktiven Kinderschützers kommen können?

Wer den, in unserer Gesellschaft leider noch immer erforderlichen, Mut aufbringt, diese Fragen zu stellen, ist den ersten Schritt zur Verbesserung und Veränderung gegangen. Für das Umfeld ist es dann wichtig, solch reflektierten Kollegen für ihre Offenheit zu danken. Es ist wichtig, zu erkennen, dass der Fehler des einen eine Wertvolle Erfahrung für das ganze Team darstellt und kein zu verbergender Makel ist.

Eine positive Fehlerkultur wäre ein wichtiger Schritt, um hochstrittige Fälle besser zu lösen. Und nicht als Fachkraft scheinbar hilflos zuschauen zu müssen, wie Kinder vor den eigenen Augen über Jahre kaputt gehen. Denn sie sind nicht hilflos, wenn sie das richtige „Werkzeug“ verwenden. Genau solche Werkzeuge sind die Triebfeder hinter der Schaffung von hochstrittig.org gewesen.

Aus Angst vor Intervention erst mal abwarten? Ganz schlechte Idee, wenn es um Kinderschutz geht.

Die Angst vor der Intervention

Immer wieder kommt auch sehr deutlich die Angst vor Intervention durch. Der sozialen Arbeit ist sie wesensfremd, da man eher mit den Menschen arbeiten möchte. Und im Familienrecht besteht zwar die Möglichkeit. Aber beide Bereiche eint oft eine Sorge. Wird das Kind durch Intervention nicht belastet? Sollte man nicht eher hoffen, dass es besser wird? Oder doch stärker auf Einvernehmen hinwirken? Die Antworten darauf wurden oben bereits gegeben.

Übersehen wird dabei, dass die Kinder bereits belastet sind. Sie leiden unter der Situation, werden therapiebedürftig, erleiden Schäden.

Zeit schafft Fakten

„Zeit schafft Fakten“ ist einer meiner immer wieder angeführten Leitsätze. Fakten zu Lasten der Kinder. Es geht daher völlig am Problem vorbei, in hochstrittige Fällen abzuwarten und Interventionen hinauszuzögern aus der Sorge, diese könnten Kinder belasten. Denn die Belastung der Kinder wird mit der Zeit nicht geringer, sondern fast immer höher werden.

Zeit schafft Fakten
Zeit schafft Fakten – zu Lasten der Kinder

Frühe Intervention verhindert schwerwiegende Intervention

Wer Sorge vor harten Interventionen, wie der Herausnahme der Kinder aus einem Elternhaushalt, der Fremdunterbringung oder der stationären, therapeutischen Unterbringung von Kindern hat, kann dieser Sorge sehr einfach vorbeugen.

Die frühe Intervention ist der Schlüssel. Wenn frühzeitig klare Vorgaben an die Eltern gestellt werden, was zum Schutz der Kinder erforderlich ist, können späte, harte Interventionen vermieden werden. Wichtig ist, auch die Einhaltung dieser Vorgaben eng zu begleiten und bei Verstößen unmittelbar zum Schutz der beteiligten Kinder zu intervenieren.

So kann z.B. bei einem unkooperativen Elternteil, der durch sein Verhalten die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil schädigt und sich nicht auf Vorgaben und notwendige Verhaltensänderungen einlässt, frühzeitig ein Wechsel des Kindes in den Haushalt des anderen Elternteils vorgenommen werden, solange der Umgang mit diesem noch funktioniert. Harte, späte Interventionen wie die Durchführung von Wiedervereinigungsprogrammen bei Eltern-Kind-Entfremdung können so vermieden werden.

Gleichzeitig wird die Chance gewahrt, dem Kind langfristig den Kontakt zu beiden Elternteilen zu erhalten. Denn dies ist einfach möglich, wenn sich die Einstellung und auch das Verhalten des bislang unkooperativen Elternteils ändert. Dann steht z.B. auch einer Doppelresidenz (Wechselmodell) langfristig nichts im Wege.

Je früher sie intervenieren, desto geringer wird die Belastung für die Kinder sein.

Neu denken und handeln, Kinder vor Schaden schützen

Sie müssen nicht zuschauen, bis das Kind kaputt ist. Durch eine, auch selbstkritische, Analyse des bisherigen Vorgehens kann etwas verändert werden. Wir sollten auch viel stärker als bisher positive Erfahrungen aus anderen Ländern in unser Handeln einfließen lassen. Dort wird oftmals viel entschlossener in hochstrittigen Fällen agiert. Darum gibt es dort auch weniger solcher Fälle.

Den Eltern wird weniger Spielraum gelassen, um Kinder zu belasten und zu schädigen. Und es spricht sich herum, dass hochstrittige Verhaltensweisen nicht toleriert und Kinder geschützt werden.

Viele Fachkräfte spiegeln mir in Gesprächen immer wieder ihren Eindruck, dass „hochstrittige“ Fälle zunehmen. Sie fühlen sich selbst dadurch immer stärker belastet. Ein Gefühl, was die Beteiligten Kinder noch deutlich stärker spüren dürften.

Die Belastung dürfte kaum geringer werden, wenn nichts verändert wird. Jeder hochstrittige Fall, der durch aktive Eskalation von einem Elternteil gewonnen wird, zieht zehn weitere nach sich. Die Erfahrungen werden in Foren und Chats ausgetauscht und verbreiten sich so als Erfolgsmodell. Ein Erfolgsmodell, welches auch durch einige wenige, aber leider sehr erfolgreiche, eskalative Anwälte zusätzlich befeuert wird.

Verantwortung übernehmen

Verantwortung übernehmen, Eskalation einzudämmen

Solange vor solch eskalativen Verhaltensweisen kapituliert wird, solange Fachkräfte hilflos zuschauen, bis das Kind kaputt ist, wird sich dieses „Erfolgsmodell“ weiter potenzieren. Hier müssen Fachkräfte Verantwortung übernehmen, um Eskalation einzudämmen.

Durch neues Denken und Handeln und eine frühzeitige, entschlossene Intervention, kann der Eskalation begegnet werden. Wenn ein eskalatives, anwaltliches Geschäftsmodell zum Scheitern verurteilt ist und sich verfahrenstaktische, hochstrittige Verhaltensweisen zum Schaden von Kindern für eskalierende Elternteile als Bumerang erweisen, dann wird sich auch dies entsprechend herumsprechen und verbreiten.

Mit negativen Konsequenzen müssten dann die bisherigen Gewinner – die eskalierenden Elternteile – rechnen. Dies wäre mit Blick auf deren Verhalten und deren Schädigung der Kinder aber auch gerechtfertigt.

Fachkräfte sind nicht zum Zuschauen, bis das Kind kaputt ist, verdammt. Sie können und müssen wirkungsvoll handeln, um Kinder zu schützen. Und das deutlich entschiedener als bisher.

Ich bin mir sicher, dass sich so „hochstrittige“ Fälle auf einen Bruchteil beschränken lassen. Dies würde auch den Aufwand für „hochstrittige Fälle“ deutlich reduzieren. Fachkräfte können so doppelt von einer veränderten Vorgehensweise profitieren.

Das zukünftige Erfolgsmodell muss „kooperative Elternschaft“ heißen und beide Eltern ein eigenes Interesse haben, diese, wo immer möglich, anzustreben.

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