Gewaltvorwürfe, ob berechtigt oder nicht, kommen in hochstrittigen Verfahren häufig vor. Und nicht selten stellen sich Betroffene (und vielleicht auch Fachkräfte) die Frage, ob die Wahrnehmung von Gewalt auch vom Geschlecht beeinflusst sein könnte.
Die Studie
Schwedische Wissenschaftler gingen dieser Frage in drei Schritten nach.
- Im ersten Schritt wurden Schilderungen von physischen und psychischen Gewaltvorfällen eingeholt.
- Im zweiten Schritt sollten Personen zehn zufällig ausgewählte Gewaltvorfälle aus Schritt 1 bewerten.
- Im dritten Schritt sollten andere Personen ebenfalls zehn Gewaltvorfälle beurteilen. In diesen hatten die Wissenschaftler allerdings das Geschlecht der ursprünglich berichtenden Person vertauscht.
Die Studie im Original
Sikström S, Dahl M, Lettmann H, Alexandersson A, Schwörer E, Stille L, et al. (2021) What you say and what I hear— Investigating differences in the perception of the severity of psychological and physical violence in intimate partner relationships.
PLoS ONE 16(8): e0255785. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0255785
Alle Daten sind transparent hinterlegt und reproduzierbar. Die Veröffentlichung hat ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen.
Die Ergebnisse
Die Wissenschaftler konnten anhand ihrer Daten feststellen, dass insbesondere physische Gewaltvorfälle als schwerwiegender bewertet wurden, wenn die Opfer Frauen waren. Physische Gewalt gegen Männer wurde hingegen durchgehend als weniger schlimm beurteilt. So wurden hohe Schweregrade physischer Gewalt gegen Männer mit einer Wahrscheinlichkeit von 36% bewertet. Handelte es sich um Gewalt gegen Frauen, so stieg die Wahrscheinlichkeit auf fast 64%.
Nicht ganz so groß waren die Unterschiede bei psychischer Gewalt. Hier waren es bei Gewalt gegen Männer eine 43%ige Chance und bei Gewalt gegen Frauen eine 57%ige Chance.
Die Forscher konnten somit nachweisen, dass es erhebliche Unterschiede in der Wahrnehmung von Gewalt durch das jeweilige Opfer-Geschlecht gibt. Dabei machte es keinen Unterschied, ob die Bewerter männlich oder weiblich waren. Sie stellten auch fest, dass die Bewertung der Schwere psychischer Gewalt den Beurteilern offenbar größere Probleme bereitet.
Bekannte Phänomene
Solche Geschlechterunterschiede wurden bereits in früheren Forschungsarbeiten festgestellt:
- Rogers, Paul; Davies, Michelle (2007) Perceptions of victims and perpetrators in a depicted child sexual abuse case: Gender and age factors. Journal of Interpersonal Violence, 22(5), 566–584. https://doi.org/10.1177/0886260506298827
- Mellor, David; Deering, Rebecca (2010) Professional response and attitudes toward female-perpetrated child sexual abuse: a study of psychologists, psychiatrists, probationary psychologists and child protection workers, Psychology, Crime & Law Volume 16/2010, https://doi.org/10.1080/10683160902776850
- Bundesverein zur Prävention sexuellen Missbrauch, 2/2004, Themenschwerpunkt „Mädchen und Frauen als Täterinnen, www.dgfpi.de/files/presse-medien/bundesverein/2004_02.pdf
Die Besonderheit der aktuellen schwedischen Studie ist, dass hier aktiv das Geschlecht der zu beurteilenden Fälle ausgetauscht wurde und das Beurteilungsverhalten somit eindeutig geschlechtsbezogen dargestellt werden konnte.
Ein unerwünschtes Ergebnis?
Wenig überraschend wurden die Forscher für die Ergebnisse ihrer Arbeit, insbesondere von Frauenrechtsorganisationen, massiv angegriffen. Ihnen wurde unter Bezugnahme auf ihre Veröffentlichungen Frauenfeindlichkeit vorgeworfen. Dies auch in ähnlichen Fällen zu beobachtende Verhalten zeigt leider deutlich, dass es einigen Kreisen nicht um den Gewaltschutz von Menschen, sondern um einseitige Täter-Opfer-Zuschreibungen geht.
Gleichsam erleben wir dies auch immer wieder in Deutschland (siehe u.a. Faktenchecks).
Für die Praxis
Es ist wichtig, sich in der Beurteilung von Gewaltvorwürfen und Gewaltvorfällen vor allem von den Fakten und nicht vom Geschlecht leiten zu lassen. Hierbei müssen sich insbesondere Fachkräfte, egal ob männliche oder weibliche, vor Augen halten, dass auch die eigene Wahrnehmung von Gewalt durch gesellschaftliche Bilder und Vorstellungen beeinflusst ist.
Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass jedes Opfer von Gewalt denselben Anspruch auf Schutz vor Gewalt und die Anerkennung der Schwere der entsprechenden Verletzung hat, unabhängig vom Geschlecht.
Dies gilt in hochstrittigen Fällen im Besonderen, wenn physische oder psychische Gewalt gegen Kinder ausgeübt wird. Hier darf es keine Selbstbeschränkungen oder Vorverurteilungen in Bezug auf das Geschlecht geben. Einzig Fakten und Tatsachen dürfen bewertet werden. Nur so können Kinder geschützt werden.
Beide Möglichkeiten in den Blick nehmen
Hier ist in der Praxis besondere Aufmerksamkeit geboten. Hinter solchen Versuchen einer einseitigen, geschlechtsbezogenen Täter-Opfer-Darstellung verbirgt sich nicht selten der Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr, z.B. im Zusammenhang mit der Manipulation und Entfremdung von Kindern in hochstrittigen Konflikten. In solchen Fällen wird der falsche Gewaltvorwurf besonders häufig als taktisches Mittel eingesetzt, wie auch eine aktuelle Studie anhand der Auswertung von 500 Gerichtsfällen nachgewiesen hat.
Es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass auch vorsätzlich falsche Gewaltvorwürfe und auch die Entfremdung von Kindern Gewaltformen sind. Gewalt gegen den anderen Elternteil und meist auch gegen das Kind selbst. Hierfür fehlt leider meist noch das Bewusstsein sowohl bei Fachkräften als auch in der Bevölkerung.
Insofern ist es wichtig, bei Gewaltvorwürfen immer zwei Optionen in den Blick zu nehmen:
- Der Vorwurf trifft zu
- Der Vorwurf trifft nicht zu
Welche der beiden Optionen letztlich zutrifft, ergibt sich nicht anhand des Geschlechts, sondern anhand von Fakten.
Daher sollten wir alles daran legen, die von den schwedischen Wissenschaftlern nachgewiesenen und schon seit Jahrzehnten bekannten Beurteilungsfehler bei der Wahrnehmung von Gewalt aufgrund des Geschlechts so gut wie möglich zu vermeiden. Denn nur so kann Gewaltschutz gewährleistet werden.