Wie Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung funktionieren

Wie Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung funktionieren

Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung sind international seit Jahrzehnten bekannt, erprobt und in fast allen Fällen erfolgreich. In Deutschland sind sie bisher allerdings weitgehend unbekannt. Und so ist immer wieder zu erleben, wie auf der einen Seite Fachkräfte zwar die Notwendigkeit sehen, zu handeln. Auf der anderen Seite steht aber die Frage: Wie soll das gehen? Und wer kann das machen?

Auf diese Fragen wird der Artikel Antworten geben. Er wird den Ablauf solcher Programme vorstellen. Er wird Verweise zu praktischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Auswertungen liefern. Positiv- und Negativbeispiele werden am Ende des Artikels erzählt. Ergänzend werden Hinweise gegeben, wie dies auch rechtlich umgesetzt werden kann.

Eines kann bereits vorweggeschickt werden: Nichts zu tun und vor der Entfremdung zu kapitulieren ist die Schlechteste aller Optionen, welche bisher leider viel zu häufig zur Anwendung kommt. Denn Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung bieten selbst nach mehrjähriger Entfremdung in vorher aussichtslos erschienenen Fällen eine Erfolgswahrscheinlichkeit von nahezu 100%.

Senden Sie uns ihre Erfahrungen (max. 1 DIN A4-Seite) und fachlichen Fragen zum Thema Wiedervereinigung nach Eltern-Kind-Entfremdung an info@hochstrittig.org. Diese werden wir anonymisiert veröffentlichen. Nur durch einen, insbesondere fachlichen, Austausch und positive Erfahrungen wird es möglich sein, bessere Verfahrensweisen zum Schutz von Kindern vor Eltern-Kind-Entfremdung zu etablieren.

Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung bieten die Lösung in vielen Fällen


Das bisher „übliche Vorgehen“

Meist verbleibt das Kind beim entfremdenden Elternteil und dem entfremdete Elternteil wird ein Umgangsausschluss auf Zeit auferlegt, welcher sich dann in nahezu allen Fällen zu einem dauerhaften Umgangsausschluss entwickelt.

Wenn Fachkräfte in seltenen Fällen erkannt haben, dass das Kind vom einen Elternteil entfremdet ist und es nicht mehr verantwortet werden kann, dass das Kind im Haushalt des entfremdenden Elternteil verbleibt, dann wird als quasi Standard-Lösung das Kind ins Heim oder in eine Pflegefamilie gegeben.

Das Kind verliert dadurch beide Elternteile. Die Ablehnung des einen Elternteils bleibt erhalten. Das eigentliche Problem wird nicht bearbeitet. Der innere Konflikt des Kindes aus der Ablehnung eines Elternteils besteht weiterhin. Dem Kind ist mit einer solchen Art der Herausnahme wenig bis gar nicht geholfen.

Dass es auch anders und besser gehen kann, zeigen zahlreiche Widervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung.

Wie Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung funktionieren

Es gibt mehrere, unterschiedliche Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung, welche im Detail Unterschiede aufweisen. Sie folgen aber einer gemeinsamen, roten Linie. Diese soll hier exemplarisch dargestellt werden.

Dabei werden Fachkräfte, die nach einer Antwort und Lösung suchen, erkennen können, dass solche Wiedervereinigungsprogramme durch im Umgang mit psychisch belasteten Kindern und Familien erfahrene Therapeuten auch regional mit überschaubarem zeitlichen und logistischen Aufwand umgesetzt werden können.

Ein wichtiger Gelingensfaktor ist hierbei das Zusammenwirken von Familiengericht, Jugendamt und therapeutischen Fachkräften. Insbesondere das Familiengericht muss hier die erforderlichen, rechtlichen Rahmenbedingungen setzen, um die Durchführung der Programme zu ermöglichen.

Die Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung sind meist auf vier Tage angelegt. Dabei erzielen sie eine Erfolgsquote der Re-Etablierung des stabilen Kontaktes zum bisher entfremdeten Elternteils von nahezu 100%.

Welche Bestandteile haben Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung?

Folgende Bestandteile umfassen Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung üblicherweise:

  1. Die Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt des entfremdenden Elternteils
  2. Die Unterbringung des Kindes in einer therapeutisch unterstützten Einrichtung
  3. Eine Kontaktsperre zum entfremdenden Elternteil von in der Regel mindestens 3 Monaten
  4. Eine Phase der therapeutischen Vorbereitung des Kindes von wenigen Tagen
  5. Eine parallele Phase der therapeutischen Vorbereitung des entfremdeten Elternteils
  6. Erste gemeinsame Begegnungen zwischen Kind und entfremdeten Elternteil, moderierte Gespräche
  7. Gemeinsame Erlebnisse, Spiele, Spaziergänge in der Natur, welche beide positiv und ohne negative Umdeutung erleben können
  8. Erinnerungsreise, Rückblick in die Vergangenheit auf gemeinsame, positive Erlebnisse, betrachten von Fotos, Videos und weiteren Erinnerungen
  9. Korrektur falscher Narrative und Behauptungen
  10. Betrachtung der Beziehung nach Durchführung des Programms, Perspektive von Kind und Elternteil auf die Beziehung zum jeweils anderen
  11. Erarbeitung weiterer Schritte in der Entwicklung der gemeinsamen Beziehung
  12. Einbindung in ein lokal unterstützendes, therapeutisches Setting zur Unterstützung nach Abschluss des Programms

Die hier dargestellten Schritte gelten in schweren Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung mit meist längerem Kontaktabbruch und einer gewissen Internalisierung der Entfremdung beim Kind.

Wann Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung scheitern

Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung haben in Untersuchungen auch Fälle gehabt, in denen diese nicht erfolgreich waren. Dies waren nahezu ausnahmslos Fälle, in denen während der Durchführung der Programme das Kontaktverbot zum entfremdenden Elternteil nicht eingehalten wurde. Das Kind fiel zurück in seine „Programmierung“, in den Loyalitätskonflikt und konnte sich in der Folge dann nicht mehr auf das Programm und auf die positiven Emotionen zum entfremdeten Elternteil einlassen.

Dies verdeutlicht die Bedeutung, welche die Kontaktsperre zum entfremdenden Elternteil während der Durchführung der Programme hat.

Belastung für die Kinder?

Es werden von Fachkräften immer wieder Bedenken angeführt, dass eine Intervention, insbesondere eine Herausnahme aus dem Haushalt des hauptbetreuenden Elternteils, für die Kinder eine Belastung bedeuten würde. Diese wolle man den Kinder nicht zumuten. Übersehen wird dabei, dass diese Kinder bereits massiv belastet sind. Ein einfaches Beispiel soll die Situation verdeutlichen:

Ein Krebspatient leidet an erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen. Eine Operation könnte ihn heilen. Die OP bedeutet aber eine kurzzeitige, zusätzliche Belastung. Aus diesem Grund verzichtet man auf die OP. Kurze Zeit verstirbt der Patient. Die zusätzliche Belastung der OP, welche sein Leiden beendet und ihm ein Weiterleben ermöglicht hätte, wurde ihm erspart.

Diese „Ersparnis“ bezahlte der Patient mit dem Leben. Kinder bezahlen für den Verzicht auf eine kurzfristige, zusätzliche Belastung, meist mit dem langfristigen Verlust eines Elternteils und lebenslangen, psychischen Belastungen.

Bis zu 80% der entfremdeten Kinder geben rückblickend an, dass sie sich gewünscht hätten, dass die Entfremdung bemerkt und aufgehalten worden wäre (Lieselotte Staub, Kontaktwiderstände des Kindes nach Trennung der Eltern: Ursache, Wirkung und Umgang, ZKE 2010, S. 306; Fiedler & Bala, Children resisting postseparation contact with a parent: concepts, controversies and conundrums, Family Court Review 2010 S. 20f ; Clawar & Rivlin, Children held hostage. Dealing with programmed and brainwashed children. Chicago: American Bar Association, Division of Family Law; 1991).

Dieser Wunsch der Kinder findet in der Praxis bisher leider zu wenig Beachtung.

Die Arbeit mit dem entfremdenden Elternteil

Neben der Wiederanbahnung und Verfestigung des Kontaktes zwischen Kind und bisher entfremdeten Elternteil ist es wichtig, auch mit dem entfremdenden Elternteil zu arbeiten. Denn Ziel soll es sein, dem Kind langfristig wieder einen stabilen Kontakt zu beiden Eltern zu ermöglichen.

Dazu ist es erforderlich, dass der entfremdende Elternteil seine Bereitschaft zur Mitwirkung erklärt. Im Idealfall erfolgte diese bereits zu Beginn des Programms und er konnte auch die Teilnahme des Kindes am Programm zulassen oder sogar unterstützen. Dies würde eine Entlastung für das Kind darstellen.

Zeigt der entfremdende Elternteil seine Mitwirkungsbereitschaft erst nach Einleitung des Programms, unter Umständen zusätzlich motiviert durch das bestehende Kontaktverbot, ist auch dies unkritisch.

Wichtig ist, dass der Elternteil, therapeutisch unterstützt, in die Lage versetzt wird, zu reflektieren, welches Verhalten beim Kind zur Ablehnung des anderen Elternteils geführt hat. Es muss verstanden werden, was dies, abseits der eigenen Emotionen, für Auswirkungen auf das Kind hatte. Der entfremdende Elternteil solle neue Wege der eigenen Emotionsregulation erkennen.

Denn ohne Einsicht und eine nachhaltige Verhaltensänderung wird es kaum möglich sein, in der Zukunft wieder regelmäßige (unbegleitete) Kontakte zum Kind zuzulassen.

Welche Wiedervereinigungsprogramme gibt es?

Die Re-Etablierung des Kontaktes zwischen entfremdeten Elternteil und Kind wird es schon sehr lange gegeben haben, wenn Fachkräfte und Therapeuten gemeinsam an einem Strang gezogen haben. Seit Anfang der 1990er Jahre entwickelten sich allerdings mehrere, strukturierte, therapeutische Programme. Hintergrund war, dass sich herkömmliche Behandlungsformen bei schwer entfremdeten Kindern als unwirksam herausgestellt haben (vergl. Harman / Saunders / Afifi (2021) Evaluation of the Turning Points for Families (TPFF) program for severely alienated children)

Nachfolgend die Auflistung bisher bekannter Programme (wird fortlaufend erweitert):

Wie deutlich zu erkennen ist, werden diese Programme bisher überwiegend im englischsprachigen Bereich eingesetzt. Es ist daher überfällig, die Erkenntnisse auch in den deutschsprachigen Raum zu transferieren. Auch Kinder in Deutschland können von diesen Programmen, welche eine nahezu 100%ige Wirksamkeit haben, profitieren.

Wissenschaftliche Untersuchungen zu Wiedervereinigungsprogrammen bei Eltern-Kind-Entfremdung

Wissenschaftliche Untersuchungen

Templer et. Al. fanden in einer australischen Meta-Analyse von 10 Arbeiten aus dem Zeitraum von 1990 bis 2015 heraus, dass eine Änderung des Sorgerechts oder des Wohnortes des Kindes ein effektives Mittel ist (Templer K, Matthewson M, Haines J, Cox G. Recommendations for best practice in response to parental alienation: findings fromasystematicreview. J FamTher. 2016; https://doi.org/10.1111/1467-6427.12137)


Clavar und Rivlin konnten dies ebenfalls in Studien auch wiederholt über mehrere Jahrzehnte und mit weit über 1.500 Fällen nachweisen.

„Wir fanden in unserer Studie, dass Aufenthaltswechsel und erweiterter Kontakt mit dem abgelehnten Elternteil die erfolgversprechendsten Wege sind, um ein Kind zu „deprogrammieren“.

Weiter stellten sie fest:

„Je kontinuierlicher und regelmäßiger das Kind Kontakt mit dem entfremdenden Elternteil hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Entfremdungsprozess sich fortsetzt und der Schaden des Kindes sich verfestigt.“  

 (Clawar SS, Rivlin BV. Children held hostage. Dealing with programmed and brainwashed children. Chicago: American Bar Association, Division of Family Law; 1991; Clawar SS, Rivlin BV. Children held hostage, identifying brainwashed children, presenting a case, and crafting solutions. Chicago: American Bar Association, Division of Family Law; 2013 https://psycnet.apa.org/record/1991-98198-000)


Reay konnte feststellen, dass das Family Reflections Reunification Programme (FRRP-Programm) in den untersuchten Fällen eine Erfolgsrate von 95% der Fälle aufwiesen (Reay K. Family reflections: apromising therapeutic program designed to treat severely alienated children and their family system. AmJ FamTher. 2015;43(2):197–207, https://psycnet.apa.org/doi/10.1080/01926187.2015.1007769). Hierbei handelte es sich lediglich um 4-Tages-Workshops mit dem abgelehnten Elternteil und dem Kind, was noch einmal verdeutlicht, wie schnell und effektiv die Wiederherstellung des Kontaktes erfolgen kann.


Warshak berichtete ähnliche Ergebnisse aus der Evaluation des Programmes „Family Bridges Workshops“ (Warshak RA. Family bridges: using insights from social science to reconnect parents and alienated children. Fam CourtRev. 2010a;48(1):48–80, https://psycnet.apa.org/doi/10.1111/j.1744-1617.2009.01288.x).


Harman / Saunders / Afifi evaluierten das viertägige Programm „Turning Points for Families“, welches für die Behandlung schwer entfremdeter Kinder konzipiert wurde. Es wurde festgestellt, dass das Programm für Kinder sicher ist und diese keine Schäden erlitten und die Teilnehmer von einer überdurchschnittlich positiven und auch stabilen Verbesserung der Situation berichteten (Harman, J.; Saunders, L.; Afifi, T.; Evaluation oft he Turning Points for Families (TPFF) programm for severely alienated children, 2021, DOI:10.1111/1467-6427.12366).


Diese und noch weitere Arbeiten wurden bereits seit Jahrzehnten von renommierten Wissenschaftlern durchgeführt, unterlagen meist einem Peer-Review und wurden teils in renommierten, wissenschaftlichen Magazinen veröffentlicht. Es handelt sich also nicht um „Experimente mit Kindern“, wie einige Kritiker behaupten, sondern um seit Jahrzehnten erprobte, wissenschaftlich gut dokumentierte und hochwirksame Programme.

Der rechtliche Rahmen

Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 entschieden, dass ein Sorgerechtsentzug zum Zwecke der Kontaktanbahnung zulässig und zum Schutz des Kindes in entsprechenden Fällen auch geboten ist (1 BvR 2108/14 vom 22.09.2014). Das Gericht hatte hier eine erhebliche Gefährdung des Kindes aufgrund des entfremdenden Verhaltens des Vaters festgestellt.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seit 2019 sehr deutlich formuliert, dass es sich bei Eltern-Kind-Entfremdung um eine Form von Kindesmissbrauch und damit Gewalt handelt. Dieser ist entsprechend effektiv und nachdrücklich, notfalls auch unter Anwendung von Gewalt zu begegnen. Staatliche Stellen haben die Pflicht, zu handeln. Dabei haben sie auch alle zumutbaren Maßnahmen zur Wiederherstellung des Kontaktes zu ergreifen. Dies gilt auch für vorbereitende Maßnahmen, sollte der Kontakt direkt noch nicht wiederhergestellt werden können. Der nationale, gesetzliche Rahmen ist dabei auch zu nutzen. Weiterhin wurde festgestellt, dass Kinder kein uneingeschränktes Veto-Recht in Bezug auf Kontakt mit einem Elternteil haben. Hier müsse eine Abwägung der verschiedenen Grundrechte vorgenommen werden.

Der Gerichtshof hat den Anspruch an die Wahrung der Menschenrechte in Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung in folgenden Entscheidungen dargelegt

Die Entscheidungen des EGMR sind für deutsche Gerichte bindend und gelten unmittelbar als Bundesrecht (siehe hierzu auch Entscheidung des BVerfG 2 BvR 1481/14 vom 14.10.2004).

Alle Entscheidungen wurden auf hochstrittig.org kommentiert und stehen dort in deutscher Übersetzung kostenfrei zur Verfügung.

Allein der Umstand, dass es sich bei Eltern-Kind-Entfremdung um eine Gewaltform handelt, bietet bereits hinreichende Rechtfertigung für eine sorgerechtliche Intervention. Denn Kinder haben, gesetzlich garantiert, ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.

Der geäußerte Wille des Kindes

Dem steht auch ein geäußerter Wille des Kindes nicht entgegen. Zahlreiche Inobhutnahmen in Fällen von Gewalt oder Vernachlässigung erfolgen ohne Einverständnis der Kinder und gegen deren Willen, zu deren Schutz.

Mehrere Oberlandesgerichte haben bereits entschieden, dass einem selbstgefährdenden Kindeswillen nicht gefolgt werden kann. Der Schutzauftrag gegenüber dem Kind überwiegt dessen geäußertem Willen (beispielsweise OLG Brandenburg 10 UF 176/09 vom 16.12.2010; OLG Saarbrücken 6 UF 106/10 vom 20.01.2011).

Auch das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach klargestellt, dass ein geäußerter Wille eines Kindes nicht beachtet werden kann, sofern dieser nicht seinen tatsächlichen Bindungsverhältnissen entspricht (1 BvR 1839/20 vom 14. April 2021, Rn. 37 m.w.N.;  zuvor 1 BvR 3326/14 vom 25.04.2015).

Diese kurze Darlegung zeigt, dass in geeigneten Fällen die notwendigen, rechtlichen Rahmenbindungen zum Tätig werden bereits vorhanden sind. Allein es fehlt an der konsequenten Anwendung des Rechts zum Schutz der beteiligten Kinder.

Die unterschätzte Gefahr: „Das Kind hat ja noch einen Elternteil“

Aus zahlreichen Gesprächen mit Fachkräften hat sich ein weiterer Grund gezeigt, weshalb zu selten gegen induzierte Eltern-Kind-Entfremdung vorgegangen wird. Die Einschätzung, diese sei ja nicht so schlimm. Das Kind ist „satt und sauber“ und hat doch immer noch einen Elternteil.

Wie bereits zuvor dargestellt, handelt es sich bei Eltern-Kind-Entfremdung um eine Form von Gewalt gegen das Kind. Und wie jede andere Gewaltform auch, hinterlässt diese Spuren und Traumata. Diese werden umso belastender, je weniger sie gesehen, anerkannt und therapiert werden. Eltern-Kind-Entfremdung ist vermutlich einer der am meisten unterschätzen Gewaltformen gegen Kinder. Dies muss sich dringend ändern.

Zu den Auswirkungen zitiere ich nachfolgend zwei fachliche Einschätzungen, die zeigen, weshalb wir Kinder vor Eltern-Kind-Entfremdung schützen und in den Fällen, in denen sie bereits eingetreten ist, dieser umgehend begegnen müssen.

„Die Studien über die Folgen von Kontaktabbruch eines Kindes zu leiblichen Eltern kommen mit unterschiedlichen Ansätzen zu dem Ergebnis, dass ein Kontaktverlust zu den leiblichen Eltern mit erheblichen gesundheitlichen Schädigungen der Kinder einhergeht, die teilweise lebenslang anhalten. Kontaktverlust zu den leiblichen Eltern ist mit einem deutlich erhöhten Risiko für die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten, schweren Depressionen, Suchterkrankungen, Angst- und Panikerkrankungen verbunden. Es finden sich auch organische Veränderungen, wie z.B. des neuroendokrinen Stoffwechsels. Durch Kontaktverlust zu lebenden Eltern werden die betroffenen Kinder etwa doppelt so stark und dreimal‘ so lang belastet wie bei Kontaktverlust durch Tod.“

(Prinz, Benjamin; Gresser, Ursula (2015) Macht Kontaktabbruch zu den leiblichen Eltern Kinder krank? NZ Fam 2015, 989-994)

Der bekannte Wissenschaftler und Kinderpsychologe Dr. Stefan Rücker beschrieb die Auswirkungen von Eltern-Kind-Entfremdung wie folgt:

„Eltern-Kind-Entfremdung ist Kindesmisshandlung und für mich ein Verbrechen an der seelischen Entwicklung von jungen, orientierungsbedürftigen Menschen. Es ist sogar schlimmer als körperliche Verletzungen, weil die heilen.“

Dr. Stefan Rücker, Kinderpsychologe und Wissenschaftler

Darum die eindringliche Aufforderung: unterschätzen Sie Eltern-Kind-Entfremdung nicht und schützen Sie die gefährdeten Kinder. Je früher, desto besser.

Fazit

Der Beitrag hat aufgezeigt, das strukturierte Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung auch bei verinnerlichter Entfremdung von einem Elternteil innerhalb kurzer Zeit zu Re-Etablierung des Kontaktes und zur Wiederbelebung der Beziehung führen. Dies gelingt in nahezu allen Fällen. Wichtigster Schlüsselfaktor ist die Kontaktsperre zum entfremdenden Elternteil, damit das Kind einen Raum erhält, in dem es seinen Loyalitätskonflikt abbauen und unbeeinflusste Erfahrungen mit dem bisher entfremdeten Elternteil machen kann.

Die rechtlichen Möglichkeiten zur Umsetzung der Wiedervereinigungsprogramme bei Eltern-Kind-Entfremdung sind bereits vorhanden. Es bedarf vor allem des Wissens um das „wie“ und Fachkräfte, die bereit und in der Lage sind, die Wiedervereinigung auch durchzuführen.

Fachkräfte, denen diese Intervention zu drastisch erscheint, haben noch andere Möglichkeiten. Je früher sie intervenieren, desto weniger drastisch müssen die Maßnahmen zum Schutz der Kinder ausfallen. Nichts zu tun ist allerdings keine Option.


Beispiele aus der Praxis

Negativ-Beispiel: Umplatzierung direkt zum entfremdeten Elternteil

Ein Oberlandesgericht hatte zutreffend erkannt, dass ein Kind beim betreuenden Elternteil einer massiven Manipulation unterlag und sein geäußerter Wille nicht seinen tatsächlichen Bindungsverhältnissen entsprach. Es wurden erhebliche Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit beim betreuenden Elternteil festgestellt.

Es wurde angeordnet, dass das Kind aus dem Haushalt des betreuenden Elternteils herausgenommen und unmittelbar in den Haushalt des Elternteils gegeben wurde, von dem das Kind seit fast drei Jahren massiv entfremdet war.

Auf die Entscheidung wurde ich in einem Gespräch mit dem seinerzeit entscheidenden OLG-Richter aufmerksam. Dieser vertrat aufgrund dieses Falles entschieden die Meinung, dass er nie wieder eine solche Herausnahme in Entfremdungsfällen anordnen würde. Es funktioniere nicht und die Kinder würden darunter nur noch mehr leiden.

Dieser Fall läuft bei mir unter dem Oberbegriff „falsches Setting“. Das Gericht hatte die Situation zutreffend erkannt. Es fehlte aber das Wissen und Handwerkzeug, um eine erfolgreiche Umsetzung zu ermöglichen. Wenn ein Flugzeug brennt, ist es eine gute Idee, das Flugzeug zu verlassen. Noch besser ist es, wenn man vorher einen Fallschirm anlegt.

Dieser „Fallschirm wäre die oben beschriebene, therapeutische Zwischenstation gewesen. Nach ein, zwei Wochen hätte die im Grunde zutreffende Entscheidung des OLG erfolgreich umgesetzt werden können. Das Kind hätte langfristig Entlastung erfahren.

Diese Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur die Situation des Kindes und der gesamten Familie richtig zu erkennen. Man muss auch wissen, welche Wege zielführend sind, um aus der Situation herauszukommen.

Leider ist der hier angesprochene OLG-Richter bis heute nicht zu der Einsicht gekommen, dass ein anderes Setting hätte helfen können. In seinem Gerichtssaal werden daher weiterhin bereits manifestierte Entfremdungen „legitimiert“.

Negativ-Beispiel: Begleiteter Umgang und Erinnerungskontakte

Das bisher meist „übliche“ Vorgehen in Fällen von Entfremdung sind begleitete Umgänge oder später auch „Erinnerungskontakte“. Beide eint eines: sie verfestigen die Entfremdung, sind kontraproduktiv und im hohen Maße belastend. Warum?

  • Das Kind kommt aus dem Haushalt des entfremdenden Elternteils und wird auf den Termin entsprechend vorbereitet.
  • Das im Loyalitätskonflikt stehende Kind weiß um die Erwartungen des entfremdenden Elternteils.
  • Es weiß auch, dass über seine Reaktionen beim begleiteten Umgang berichtet werden wird.
  • Und es weiß, dass es nach dem begleiteten Umgang wieder in den Haushalt des entfremdenden Elternteils zurückgeht.

Aus Selbstschutz wird das Kind, um nicht in Konflikt mit dem entfremdenden Elternteil zu kommen, bei dem es lebt und auf den es angewiesen ist, für die Zeit des begleiteten Umgangs die erwünschte Fassade aufrechterhalten.

Gerade bei jüngeren Kindern passiert es aber trotzdem, dass diese positive Reaktionen auf den anderen Elternteil erkennen lassen. Dies findet sich dann in den Berichten über den begleiteten Umgang und landet damit beim entfremdenden Elternteil. In vielen Fällen wird dann entsprechend auf das Kind eingewirkt werden, damit solche „Verfehlungen“ nicht wieder eintreten. Und die Fachkräfte wundern sich, weshalb die begleiteten Umgänge nach anfangs positiven Momenten immer schlechter verlaufen.

Die Erklärung ist sehr einfach.

  1. Man hat dem entfremdenden Elternteil die Möglichkeit gegeben, die ablehnende Einstellung im Vorfeld des Termins zu konditionieren.
  2. Man hat ihm die Möglichkeit gegeben, nach dem begleiteten Umgang vom Kind empfundene positive Aspekte negativ umzudeuten.

Gleiches gilt bei den sogenannten „Erinnerungskontakten“, welche mit meist großen Zeitabständen stattfinden sollen. Diese sind in Fällen induzierter Entfremdung vor allem dafür geeignet, durch entsprechende Vor- und Nachbereitung dem Kind die negative Einstellung und ablehnende Haltung des entfremdenden Elternteils in Erinnerung zu rufen.

Um einer Entfremdung entgegenzuwirken, braucht das Kind einen Rahmen, in dem es vor dem Loyalitätskonflikt und der Beeinflussung durch den entfremdenden Elternteil geschützt ist. Ist dies nicht der Fall, kann die Entfremdung nicht überwunden werden.

Positiv-Beispiel: Kontakt-Wiederanbahnung nach Entführung

In einem spektakulären Fall, den ich längere Zeit begleitet habe und der auch in mehreren großen Medien aufgearbeitet wurde, ging es bis hin zu einer Entführung des Kindes durch die Mutter. Verbal lehnte das Kind den Vater ab, es war sehr deutlich erkennbar, dass vieles, was das Kind sagte, nicht erlebnisbasiert war.

Nachdem das Kind im Ausland aufgefunden wurde, wurde es zurück nach Deutschland gebracht. Der Vater hatte bereits im Vorfeld eine Klinik organisiert, die mit den Fall vertraut war und sofort tätig werden konnte.

Nachdem die Ärzte die Verfassung des Kindes festgestellt hatten, wurde im ersten Schritt der Kontakt zur Lebensgefährtin des Vaters aufgebaut, die das Kind aus früheren Zeiten, Die Lebensgefährtin war nicht in die Ablehnungskampagne involviert und somit eine neutrale Brücke. Es dauerte nicht einmal zwei Stunden, bis die begleitenden Ärzte ein harmonisches Miteinander feststellen konnten.

Wenige Tage später gab es erste Kontakte mit dem Vater. Diese verliefen schwieriger, das von der Mutter geprägte Bild wirkte nach. Bereits am zweiten Tag machten Vater und Tochter gemeinsame Spaziergänge. Nach vier Tagen besuchten sie gemeinsam die Wohnung des Vaters. Nach zwei Wochen verbrachte die Tochter bereits ein ganzes Wochenende im Haushalt des Vaters. Dies ist auch im Kontext der schweren, festgestellten Traumatisierungen während der über ein Jahr andauernden Flucht der Mutter im Untergrund zu sehen und der damit einhergehenden Behandlungsbedürftigkeit des Kindes.

Nach knapp vier Wochen zog die Tochter mit Zustimmung der behandelnden Ärzte beim Vater ein. Es bestand wieder eine tragfähige Beziehung.

In diesem Fall drängte das Jugendamt von Anfang an darauf, das Kind in einer Pflegefamilie oder im Heim unterzubringen. Es wurde alles versucht, um eine Rückkehr zum Vater zu verhindern. Letztlich konnte dies wohl nur verhindert werden, weil sich auf der einen Seite die Ärzte entschieden gegen diese Bestrebungen zur wehr setzten. Zum anderen wurde der Einzug des Kindes beim Vater ohne Wissen des Jugendamtes vollzogen. Als das Jugendamt dann konkrete Schritte einleiten wollte, lebte das Kind bereits seit über zwei Monaten beim Vater. Damit fehlte dem Jugendamt die Begründung zur Fremdunterbringung.

Die Mutter war während der ganzen Zeit und auch nach Jahren noch völlig uneinsichtig. Gemeinsam mit ihren weiteren Kindern, welche in ihre fortwährenden Falschbeschuldigungen involviert waren, wurde trotz gerichtlichem Verbots in sämtlichen Kliniken des Wohnumfeldes vorstellig, um ihre Tochter aus der Klinik zu holen. Dies gelang nur deshalb nicht, da das Kind, in weiser Voraussicht und mit Einverständnis der Klinik unter einem falschen Namen aufgenommen wurde. Die Mutter hatte sich für ihre Handlungen strafrechtlich zu verantworten. Aufgrund ihrer nicht feststellbaren Einsichtsfähigkeit musste in diesem Fall das Kind dauerhaft vor ihr geschützt werden.

Negativ-Beispiel: Unterbringung im Heim oder einer Pflegefamilie

Immer wieder wird in Entfremdungsfällen, in denen die Herausnahme aus dem hauptbetreuenden Haushalt (auch aufgrund anderer Umstände) erkannt wird, ausschließlich auf eine Unterbringung des Kindes im Heim oder bei einer Pflegefamilie abgestellt. Man kann dabei immer wieder den Eindruck erlangen, dass dies dem Grundgedanken folgt, wenn ein Kind aus dem Haushalt der Eltern genommen wird, dann kann es nicht bei den Eltern betreut werden. Dies wird dann so weit getrieben, dass dies selbst bei getrennten Eltern angewandt wird, bei denen der zweite Elternteil bereit und fähig ist, die Betreuung des Kindes zu übernehmen und sich nichts hat zu Schulden kommen lassen.

In Fällen induzierter Entfremdung wird Kindern durch solch ein Vorgehen nicht nur ihr bisher vertrauter (entfremdender) Elternteil genommen. Dem Kind wird kein Angebot einer Beziehungs-Reaktivierung zum zweiten Elternteil gemacht. Hinzu kommt, dass auch die erforderliche, therapeutische Unterstützung oftmals nicht ausreichend zur Verfügung steht, wenn sie denn überhaupt erkannt wird.

Dafür erhalten insbesondere Kinder in Pflegefamilien fremde Beziehungspersonen, welche die Bindungsentwicklung des Kindes zusätzlich desorientieren können. Darüber hinaus wird das negative Bild, welches dem Kind vom abgelehnten Elternteil vermittelt wurde, nicht bearbeitet. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass dieses durch, in dem Fall kontraproduktives, Mitgefühl noch verstärkt werden kann. Denn auch den Pflegeeltern fehlt ein realistisches Bild vom abgelehnten Elternteil, welchen sie unter Umständen zu Unrecht als Mitgrund für die Fremdunterbringung des Kindes sehen, dies auch dem Kind spiegeln und es in seiner Ablehnung des Elternteils bestärken.

Kinder brauchen in Fällen induzierter Eltern-Kind-Entfremdung keine Entwurzelung oder weitere Bindungspersonen. Im Gegenteil, es ist für sie entlastend, sie zu ihren Wurzeln zurückzuführen. Dies gilt sowohl zu den familiären Wurzeln (bisher abgelehnter Elternteil und auch dessen Umfeld, z.B. Großeltern). Es gilt aber insbesondere auch für die Wurzeln ihrer Gefühle und Emotionen. Diese mussten sie in Obhut des entfremdenden Elternteils meist unterdrücken und haben so den Zugang zu ihren Wurzeln und Emotionen verloren.

Positiv-Beispiel: Ausweglosigkeit des entfremdenden Elternteils

Es ging um drei Kinder im Alter zwischen 7 und 13 Jahren. Seit über vier Jahren lehnten sie verbal den Kontakt zum Vater ab. Familiengericht und Jugendamt sind dem gefolgt und haben jeden Versuch zur Kontaktanbahnung ausgeschlossen.

Erst ein Drama brachte die Wende. Die Mutter wurde unheilbar krank. Anfangs versuchte sie noch, die Betreuung durch die (im Ausland lebende) Großmutter zu organisieren. Auch diese war damit allerdings überfordert.

Das Jugendamt erlangte von der Situation Kenntnis. Es wandte sich an den Vater, da nach dem in absehbarer Zeit bevorstehenden Tod der Mutter die Fremdunterbringung der Kinder organisiert – und vom Vater finanziert, was der Anlass des Jugendamtes zur Kontaktaufnahme war – werden musste.

Der Vater drang auf einen Kontaktversuch zu seinen Kindern. In der Situation unterstützten auch das Familiengericht und die eingesetzte Verfahrensbeiständin den Versuch.

Es wurden umfangreiche Vorbereitungen getroffen, da man vom schlimmsten ausging. Die Kinder lehnten den Vater bisher ja verbal ab. Es erweckte den Eindruck, dass insbesondere das Jugendamt das Scheitern des Kontaktes erwartete.

Es kam ganz anders. Vater und Kinder trafen sich an einem neutralen Ort. Nach fünf Minuten gab es angeregte Gespräche. Man lag sich in den Armen und schwankte zwischen Wiedersehensfreude und Trauer über den bevorstehenden Verlust der Mutter. Gut eine Woche später zogen alle drei Kinder beim Vater ein.

Dieses Beispiel zeigt, dass vier Jahre Kontaktabbruch hätten verhindert werden können. Es hätte nur einmal der Versuch unternommen worden wäre, den Kindern einen Kontakt zum abgelehnten Elternteil in einem Umfeld zu ermöglichen, in dem sie vom Loyalitätsdruck zum entfremdenden Elternteil entlastet worden wären. Dies sollte aber viel öfter versucht werden.

In dem Fall brauchte es nicht einmal ein Wiedervereinigungsprogramm. Den Kindern wurde ein Aufwachsen im Heim erspart. Unnötige Kosten für die Heimunterbringung der drei Kinder wurden vermieden.


Haben Sie weitere Praxis-Beispiele? Dann senden Sie uns diese gerne an info@hochstrittig.org (max. 1 DIN A4-Seite). Geeignete Beispiele werden wir nach Prüfung dann gerne anonymisiert veröffentlichen.

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